26.

22 3 0
                                    


Sichtlich angespannt verließ Tia die Zelle und ging neben Baran den Zellgang entlang. Ihre eine Hand lag um das Holzherz, krampfte sich beinahe schon darum.
An der Zugangstür zum Kerker blieb die Wandlerin stehen und sah Baran erstaunt an.
„Ihr bringt mich aus dem Kerker heraus?"
Der Vampir nickte schmunzelnd, sah Tia dann aber streng an.
„Ich vertraue darauf, dass du keinen Ärger machst und vernünftig bleibst. König Simon im Übrigen auch. Oder muss ich dich gleich binden?" Bedeutungsvoll wies der Hauptmann auf die Fesseln, die wie stets an seinem Gürtel hingen.
Das Mädchen schluckte und wurde etwas blasser, bevor sie heftig den Kopf schüttelte.
„Nein, bitte keine Fesseln, Baran. Ich werde Euch keine Probleme machen."
Baran schmunzelte. „Na dann komm." Eher symbolisch griff er sie am Arm und führte Tia aus dem Kerker heraus.
„König Simon hat angeordnet, dich in sein Büro zu bringen."
Erneut blieb die junge Frau stehen. „Sein Büro?", hakte sie ungläubig nach. „Ich hatte eher mit einem Verhörraum oder dergleichen gerechnet."
Grinsend zuckte Baran die Schultern. „König Simon dachte, die Atmosphäre in seinem Büro wären wohl geeigneter. Und jetzt komm."
Ohne Tia erneut am Arm zu greifen, ging der Vampir los. Tia sah ihn verwundert an, beeilte sich aber dann, zu ihm aufzuschließen. Für Tia unsichtbar lächelte Baran zufrieden.
„Soll mich das mit der Atmosphäre jetzt eher beruhigen oder beunruhigen?", hakte die Wandlerin mit einem schiefen Lächeln nach.
„Ich verstehe deine Bedenken, Tia. Gewöhnlich würde ein derartiges Gespräch auch in der Zelle oder einem Verhörraum stattfinden, da hast du recht. Aber du scheinst meinem König imponiert zu haben. Allein schon durch deine Bitte nach einem Gespräch. Daher ist die Antwort auf deine Frage: Es kann dich eher beruhigen."
Tia nickte stumm und ging weiter neben ihrer Begleitung her. Immer wieder stoppte Baran oder wurde zumindest langsam, wenn er merkte, dass seine junge Gefangene sich neugierig umsah.
Erst kurz vor dem Ziel ergriff Tia erneut das Wort. „Ich bin trotzdem nervös, Baran."
Der Hauptmann nickte lediglich. „Das ist verständlich. Du fürchtest König Simons Reaktion, nicht wahr?"
Das Mädchen nickte. „Ja. Es ... es steht einfach sehr viel für mich auf dem Spiel."
Baran blieb stehen und sah Tia ernst an. „Ich kann dir nur den Rat geben, sei offen und ehrlich."
Die Wandlerin lächelte schwach. „Das habe ich vor."
„Gut. Dann komm. Da vorne ist sein Büro", erklärte er und wies auf eine schlichte Tür.

Baran klopfte. Auf ein leises Zeichen hin öffnete er die Tür und verneigte sich respektvoll.
„Ich bringe Euch Tia, Hoheit."
Tia schluckte und trat neben den Hauptmann.
„König Simon", grüßte sie ihn mit einem höflichen Nicken.
Simons Augenbraue wanderte nach oben, als er Baran fragend ansah. „Keine Fesseln, Hauptmann?"
Der Vampir schüttelte den Kopf. „Ich hielt es nicht für nötig, mein König. Immerhin war es Tias Wunsch, mit Euch zu sprechen. Warum sollte sie also fliehen? Außerdem hat sie mir ihr Wort gegeben."
Der König nickte. „In Ordnung." Einladend wies er auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Setz dich, Mädchen."
Tias Finger krampften sich erneut um ihren Talisman. Für einen Moment schloss sie die Augen, als sie spürte, wie ihre Hände sich erneut wandelten. Mehrmals atmete sie tief durch, doch dieses Mal gelang es ihr nicht, die Finger gänzlich zurück zu wandeln.
Zögerlich trat sie vor den Stuhl, setzte sich und lächelte den König zugleich entschuldigend und verlegen an.
Simon, der die Wandlerin die ganze Zeit beobachtet hatte, nickte ihr zu.
„Solange du ansonsten vernünftig bleibst, soll es mir recht sein. Ich habe deine Bemühungen zur Kenntnis genommen und rechne sie dir an", sprach er ruhig und freundlich zu Tia.
„Du bist angespannt, nehme ich an. Gelingt es dir deshalb nicht, die Veränderung zu verhindern?"
Erneut schloss die junge Frau die Augen und atmete tief durch.
„Jetzt kommt es darauf an", sprach sie in Gedanken zu sich selbst.
„Ja, König Simon", bestätigte sie dann.
Der Vampir nickte leicht und lehnte sich dann etwas zurück. „Deine Anspannung ist verständlich. Dennoch denke ich, es ist an der Zeit, endlich Klartext zu reden. Da dieses Gespräch auch dein Wunsch war ..." Er machte eine einladende Handbewegung. „Worüber möchtest du reden?"
Tia seufzte leicht und strich sich fast schon verzweifelt über das Gesicht.
„Baran!" Simon nickte dem Hauptmann zu, gab ihm ein Zeichen. Kurz darauf stand der junge Mann neben Tia und reichte ihr einen Becher Wasser.
Dankbar nahm Tia den Becher an und leerte ihn in einem Zug.
„Wo soll ich nur anfangen ...?", überlegte sie laut.
Kaum, dass Baran ihr den leeren Becher abgenommen hatte, streifte sie die Kette von ihrem Hals und spielte gedankenverloren mit dem Anhänger.
„Ich weiß nicht, was Ihr bereits wisst ...." Setzte sie an.
Simon winkte ab. „Tu der Einfachheit halber so, als ob ich gänzlich unwissend wäre. Das sollte die Sache erleichtern."
Tia schluckte, nickte dann.
„Ich wurde in der Nacht des blauen Mondes geboren. Kurz nach meiner Geburt haben unsere Ältesten errechnet, dass ich mich auch in einer Nacht des blauen Mondes zum ersten Mal wandeln werden.
Wandler die an einem solchen Mond zur Welt kommen, sind stärker und kräftiger als andere.
Mit die mächtigsten Wölfe unter ihnen sind jedoch die, deren erste Wandlung ebenfalls an einem blauen Mond stattfindet."
Unsicher hob Tia den Blick und sah Simon an.
Der König nickte ihr aufmunternd zu. „Fahr fort."
„Ab jetzt wird es etwas komplizierter. Außerdem kommen wir zum Kern meines – und wohl auch Eures – Problems."
Interessiert beugte Simon sich nach vorne.
„Um der größeren Macht standhalten zu können, beginnen Wandler wie ich bereits zwei Wochen vor der eigentlichen Wandlung mit der Vorbereitung darauf. Seit Neumond, also seit der Nacht, in der Ihr mich..." Tia zögerte kurz.
„Seit ich dich habe entführen lassen", half Simon aus.
Das Mädchen nickte. „Seit dieser Nacht habe ich, wie ihr bereits gemerkt habt, nennen wir es: Teilwandlungen. Diese laufen zunächst unbewusst ab und vor allem in stark emotionalen Situationen. Es liegt an mir, diese mehr und mehr zu kontrollieren. Außerdem muss ich üben, diese Veränderungen bewusst herbeizuführen."
„Was geschieht, wenn du das nicht machst oder machen kannst?"
Simons Blick lag ehrlich interessiert auf der jungen Frau.
Tias Blick wurde ernst. „Wenn ich nicht lerne, diese kleinen Wandlungen zu kontrollieren, werde ich mich auch später als Wolf nicht kontrollieren können. Das heißt, ich werde dann den Wolf in mir nicht beherrschen können, sondern von ihm dominiert. Verliert ein Wandler die Kontrolle, so wird er zu einer Gefahr für alle."
Der König runzelte die Stirn.
Tia seufzte. „Keiner möchte einem solchen Wolf begegnen, Hoheit. Es gab in unserer Geschichte erst wenige dokumentierte Fälle. Sie alle haben aber damit geendet, dass der betreffende Wolf vom Rudel getötet werden musste, weil er eine Gefahr für sich und andere geworden ist.
Unsere Kinder werden vom Welpenalter an davor gewarnt, nicht die Beherrschung zu verlieren. Wir erzählen ihnen die Legende von Olloudius, dem einsamen Wolf, noch bevor sie laufen können."
Simon nickte leicht. „Also sollten wir das wohl besser verhindern. Was musst du dafür tun?"
Die Wandlerin lächelte leicht schief. „Üben. Ich muss lernen, die Wandlungen bewusst herbeizuführen. Aber es will mir nicht so recht gelingen."
Der Vampir nickte nachdenklich. „Ich werde Anweisung geben, in der Bibliothek nach Büchern zu suchen, die vielleicht eine Hilfestellung enthalten könnten."
Tia deutete eine Verneigung an. „Ich danke Euch." Sie zögerte einen Moment. „Werdet Ihr mir erneut Wolfswurz geben lassen?"
König Simon tippte nachdenklich die Finger aneinander. „Das ist eine gute Frage. Ich weiß inzwischen, dass es aktuell wohl keine gute Idee wäre, da es dicht töten könnte." Fragend blickte er zu seiner Gefangenen.
„Das ist richtig."
Simon brummte unwillig. „Eigentlich war es mein Plan, deine erste Wandlung zu verhindern. Aber wenn ich alles richtig verstanden habe, würde das deinen Tod bedeuten."
„Auch das ist richtig, Hoheit."
Der König fluchte leiste. „Andererseits kann ich es nicht riskieren, einen wandelfähigen Werwolf in meinem Kerker zu haben."
Tia schloss für einen Moment die Augen. Wie aus weiter Ferne hörte sie die Mondgöttin, die leise zu ihr sprach. Unwillig schüttelte die Frau den Kopf. „Nein, das will ich nicht, das wäre Folter", antwortete sie der Stimme, die nur sie hören konnte.
Erneut lauschte die junge Frau und senkte schließlich ergeben den Kopf.

Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die GeiselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt