22.

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Baran machte sich nicht die Mühe, den Tisch zu umrunden. Stattdessen riss er ihn zur Seite und schleuderte ihn gegen die Wand, wo er krachend zerbrach.
Er ging vor Tia auf die Knie und schlug mit der Faust kräftig auf ihren Brustkorb.
„Nuri, hol Leon", brüllte er und kümmerte sich nicht darum, ob diese seinem Befehl nachkam.
Im Wechsel schlug er dem Mädchen ins Gesicht und auf den Brustkorb, versuchte so, sie zu wecken. Doch Tia blieb regungslos liegen.
Fluchend drehte der Vampir die Wandlerin auf die Seite. Nur kurz zögerte er, dann zuckte er die Schultern und schob ihr die Finger in den Mund.
Tia würgte und spie das soeben getrunkene Wasser auf den Boden. Dennoch blieb sie bewusstlos.
Baran raufte sich die Haare. Erneut begann er, auf ihren Brustkorb einzuschlagen.
Die Tür wurde so heftig aufgerissen, dass sie nur noch schief in den Angeln hing.
Mit rot glühenden Augen kniete Leon sich neben seinen Freund. „Was ist geschehen?"
* * *
Strahlender Sonnenschein umfing Tia, als sie friedlich über die Lichtung im Wald spazierte. Erst vor der leise plätschernden Quelle blieb sie stehen.
Tia verzog das Gesicht, als ein Schmerz in ihrer Brust aufflammte. Wieder und immer wieder.
Sie runzelte die Stirn. Das passte nicht zu diesem friedlichen, ruhigen Ort.
Mit einem Lächeln ließ Tia sich neben der Quelle auf den Boden sinken. Hier wollte sie für immer bleiben. Nie wieder wollte sie von hier fort.
Wenn nur nicht dieses ständige Ziehen wäre, und diese Rufe, die sie aufforderten, aufzuwachen. Sie wollte nicht aufwachen. Es war zu schön hier.
Tia schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Plätschern der Quelle. Der Schmerz, die Rufe, das Ziehen – all das drang immer weiter in den Hintergrund.
„Wir verlieren sie." Wie von ganz weit weg, hörte sie diese Worte – ohne deren Sinn zu verstehen. Wer sollte hier wen verlieren?
Tia zuckte die Schultern. Es war egal. HIER war alles egal.
Entspannt lehnte sie sich an den warmen Felsen, als sie plötzlich etwas Warmes und Weiches an ihrem Bein spürte.
Mit einem Lächeln öffnete Tia die Augen und sah direkt in die weißen Augen der Mondgöttin.
„Du bist da", stellte Tia glücklich fest und ließ ihre Hand durch das samtene Fell gleiten.
Die weiße Wölfin sah Tia ernst an. Erneut erklangen ihre Worte in Tias Kopf, doch dieses Mal wunderte sich das Mädchen nicht darüber.
„Du kannst hier nicht bleiben, Tia. Deine Zeit ist noch nicht gekommen."
Tia schüttelte unwillig den Kopf. „Es ist so schön, so friedlich hier. Ich will nicht mehr weg."
„Eines Tages wirst du hier an diese Quelle kommen und ich werde dich mit offenen Armen empfangen. Aber dieser Tag ist noch nicht gekommen. Sie machen sich Sorgen um dich. Hör nur, wie sie nach dir rufen!"
Unwillig öffnete Tia ihren Geist und die Stimmen, die sie die ganze Zeit verdrängt hatten, drangen mit aller Wucht auf sie ein. Die Göttin hatte recht. Jemand rief nach ihr, flehte sie an, die Augen zu öffnen.
Tia presste ihre Hände auf die Ohren. „Ich will das nicht hören, Göttin. Dort drüben erwarten mich nur Qualen und Sorgen."
Eine rauhe, warme Zunge leckte sanft über Tias Bein, lenkte so ihre Aufmerksamkeit auf die Wölfin neben sich.
„Du musst kämpfen, Tia. Ich kann dich nicht hier bei mir lassen. Du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen?"
Tia seufzte. „Was für eine Aufgabe soll ich erfüllen? Ich bin eingesperrt in einen goldenen Käfig. Was soll ich da schon tun?"
Die Wölfin leckte über Tias Hand.
„Du musst mit den Vampiren reden. Ich wünschte, es ließe sich vermeiden, aber du musst ihnen alles erzählen. Du musst ihnen sagen, was das Wolfswurz mit dir macht und was geschieht, wenn du dich nicht wandeln kannst. Wenn du es vor deiner Wandlung noch einmal nimmst, werde ich dich nicht mehr retten können."
Tia schüttelte den Kopf. „Das kann ich ihnen nicht erzählen, Mutter."
Die Wölfin senkte den Kopf. „Du kannst und du musst, mein Kind."
Ein bitterer, metallischer Geschmack in ihrem Mund ließ Tia zusammenfahren.
Die Landschaft um sie herum verblasste.
Tias Finger krallten sich in das weiche Fell der Wölfin, doch sie konnte nicht verhindern, dass auch die Mondgöttin langsam durchscheinender wurde.
„Denk an meine Worte, Tia. Und denk an alle, die dich in Gedanken begleiten. Du bist stark, mein Kind. Du wirst deine Aufgabe bewältigen."
* * *
Flatternd öffnete Tia ihre Augen.
Sie lag auf dem Bett in der hellen Zelle, doch anders als auf der Lichtung blendete die Sonne unangenehm in ihren Augen.
Noch immer hielten ihre Finger fest das Laken umklammert. Ihr ganzer Körper schmerzte.
Mit einem Stöhnen schloss Tia ihre Augen.
„Bleib bei uns, Tia", hörte sie eine sanfte Stimme, doch ihr fehlte die Kraft, darauf zu reagieren.
„Das schlimmste hat sie überstanden, Leon", erklang eine zweite Stimme. „Dein Blut scheint sie gerettet zu haben."
Blut. Tia riss die Augen auf und sah in Leons tiefrote Iriden.
Zögerlich leckte sie über ihre spröden Lippen, schmeckte erneut den bitteren Geschmack des Blutes.
Leon lächelte schwach.
Langsam drehte Tia ihren Kopf.
Der Prinz hielt seine eine Hand fest auf den Unteram gedrückt, doch deutlich konnte sie das frische Blut riechen.
„Es tut mir leid, Tia. Wir wussten nicht, was wir noch tun sollen."
Tia griff sich stöhnend an den Kopf.
Eine kleine Hand mit einem Becher wanderte in ihr Blickfeld. Tia begann zu zittern.
„Es ist Wasser, Tia!" Baran berührte sie sacht am Arm und nahm Nuri den Becher aus der Hand.
„Trink. Du warst fast zwei Tage bewusstlos."
Entkräftet ließ Tia es zu, dass Leon sie sanft aufrichtete und Baran ihr den Becher an die Lippen hielt.
Gierig begann sie, das kühle Nass zu trinken und sank erschöpft zurück in ihre Kissen.
„Was ist passiert?"
Baran kratzte sich leicht am Kopf.
„Du hast das Wolfswurz getrunken. Weißt du noch?"
Tia nickte matt.
„Erst schien alles in Ordnung. Und dann bist du vom Stuhl gekippt. Aschfahl. Und ich konnte dein Herz nicht mehr schlagen hören.
Tia griff sich an die noch immer schmerzende Brust.
„Ich habe wie wild auf deinen Brustkorb geschlagen, damit dein Herz wieder schlägt. Aber immer wieder hat es aufgehört", erklärte der Hauptmann.
„Erst, als Leon da war, wurde es besser. Aber er konnte sich nicht von dir entfernen, ohne das es dir wieder schlechter ging."
Tia schloss erschöpft die Augen. „Ruh dich aus."
Ruckartig versuchte Tia, sich aufzurichten. „Ich... ich muss mit dem König reden."
Verwirrt sahen Baran und Leon sich an. Tia verkrampfte. Zeitgleich sahen die beiden Vampire zum Eingang, wo König Simon stand.
Noch immer hing die Tür schief in den Angeln, doch keiner schien sich derzeit daran zu stören.
„Das hat Zeit, Tia."
Das Mädchen schüttelte vehement den Kopf. „Nein. Bitte. Wenn Ihr mir noch einmal Wolfswurz gebt..."
Simon brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. „Das werde ich vorerst bestimmt nicht tun. Aber wir werden erst reden, wenn du wieder bei Kräften bist."
Sein Blick wanderte zu Leon und Baran. „Ihr hingegen werdet mich jetzt begleiten. Und du auch, Nuri."
Das Mädchen schluckte leicht, nickte dann aber.
„Und wer...", setzte Leon an, stockte aber, als sein Vater ihn warnend anblitzte.
„Kiran und Levin werden auf das Mädchen aufpassen. Zumal du die Tür fast aus den Angeln gerissen hast. Kommt jetzt."
* * *
Zum ersten Mal saß Nuri am großen Besprechungstisch. Unsicher und zugleich andächtig sah sie sich in dem großen Raum um.
Ungeduldig, wenn auch mit einem Schmunzeln, wartete Simon, bis Nuris Blick sich ihm zuwandte.
„Wie lange geht das schon, Leon? Dass das Mädchen derart auf dich reagiert?"
Leon zuckte verlegen die Schultern. „Im Grunde von Anfang an, Vater."
Simon knurrte ungehalten. „Das hättest du mir sagen müssen, Sohn. Das hätte andere Maßnahmen vielleicht unnötig gemacht."
Leon nickte leicht. „Ich konnte es selbst nicht so sehr einordnen, Vater. Es war eher ein vages Gefühl."
„Nun gut. Es lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Nutze deine Verbindung – welcher Art auch immer sie sein sollte – damit das Mädchen sich ruhig verhält". Leon atmete erleichtert auf. „In Ordnung, Vater."
Simon nickte knapp und wandte sich an Baran. „Bericht."
„Es scheint fast so, als ob Tia das Wolfswurz nicht verträgt. Wir wissen, dass es die Wandler schwächt, aber Tia reagiert jedes Mal stärker darauf. Ich fürchte, beim nächsten Mal wird sie wirklich sterben."
König Simon runzelte die Stirn. „Kann das vielleicht mit ihrer Abstammung zu tun haben? Sie ist eine Alphatochter. Manche von uns reagieren auch stärker auf Silber als andere."
Baran zuckte leicht die Schultern. „Ich weiß es nicht, Hoheit. Vielleicht liegt es auch am Zeitpunkt ihrer Geburt, beziehungsweise ihrer ersten Wandlung. Also am blauen Mond."
Nuris Augen weiteten sich. Unruhig begann sie, auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen.
Schließlich zupfte sie Leon sacht am Ärmel.
Fragend sah Leon erst das Kind an, dann zu seinem Vater.
„Ich glaube, Nuri hat eine Idee, Vater."
Erstaunt wandte er den Blick Nuri zu.
„Dann erzähl, Mädchen."
Nuri schluckte leicht, stand dann auf und verneigte sich.
„Das mit Tia erinnert mich an ein Werwolfmärchen, das ich vor Kurzem gelesen habe. Es heißt: Artaios und der blaue Mond."
Simon runzelte die Stirn.
„Woher kennst du Werwolfmärchen?"
Leon hustete leicht und sah tadelnd zu Nuri.
„Ich habe ihr ein Buch mit Geschichten gegeben, Vater."
Wieder erwarten nickte Simon nur knapp.
„Erzähl es uns, Nuri."

Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die GeiselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt