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Mit einem zerknüllten Bogen Pergament stürmte Lyn, ohne anzuklopfen, in das Büro ihres Alphas.
Samuel hob skeptisch die Augenbraue.
„Was ist los, Lyn?"
„Ein Brief, Alpha. Von einem der Blutsauger!"
Die Brauen des Rudelführers wanderten noch höher. „Bist du dir sicher? Normalerweise schicken sie doch eine Krähe?"
Die junge Wandlerin schüttelte nur den Kopf.
„Ja, aber nicht heute. Den ganzen Morgen haben wir nach von Tia Ausschau gehalten. Aber sie hat sich nicht am Fenster gezeigt. Stattdessen stand da auf einmal ein junger Vampir, hat in Richtung Wald gewunken und irgendwelche Zeichen gemacht, die wir nicht so recht deuten konnten.
Giso hat uns befohlen, zurückzubleiben, und ist selber einen Schritt vor die Baumgrenze getreten. Der Vampir schien regelrecht erleichtert und hat ein Blatt emporgehalten. Dann hat er es um einen Stein gewickelt und diesen zu uns geworfen. Das Ding ist quasi vor Gisos Füßen gelandet, so weit hat er ihn geschmissen."
Inzwischen ungeduldig, sah Samuel die Jungwölfin an. „Und was ist nun mit Tia?"
Mit einem schwachen Grinsen hob Lyn den Brief empor. „Das steht hier drin, Alpha."
Angespannt und mit zitternden Fingern streckte Samuel Lyn seine Hand entgegen, die ihm den Bogen sogleich reichte.
Fahrig strich Samuel das Pergament glatt und begann zu lesen.

„An den Alpha der Werwölfe. Eure Tochter ist den Umständen entsprechend wohlauf. Sie hat ihre erste Wandlung gut überstanden, wurde dafür aber der Sicherheit wegen in den tiefsten Kerker gesperrt. Inzwischen durfte sie diesen wieder verlassen und befindet sich nun in einer Zelle, die vom Wald aus nicht einsehbar ist.
Sobald sicher ist, dass Tia sich kontrollieren kann, werde ich darauf hinarbeiten, dass mein Vater gestattet, Eure Tochter wieder in der ursprünglichen Zelle unterzubringen.
gez. Prinz Leon."

Die Finger des Alphas bohrten sich in den Brief, verursachten kleine Löcher, als sie sich zu Krallen formten. Fassungslos las er den Text ein weiteres Mal und hob dann kopfschüttelnd den Blick.
„Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich davon halten soll."
Samuel ließ das Blatt auf die Tischplatte sinken. „Warum sollte der Prinz des Blutsaugerkönigs sich für Tia einsetzen? Aber wenn seine Nachricht der Wahrheit entspricht – und davon gehe ich gerade aus – geht es meiner Tochter immerhin gut. Danke Lyn. Du kannst auf deinen Posten zurückkehren."
* * *
Längst war die Dämmerung der Nacht gewichen und der noch fast volle Mond erhellte die Lichtung, als Samuel aus einem leichten Schlaf hochschreckte.
„Keral?", beantwortete er den stummen Ruf des Werwolfs über die Gedankenverbindung. „Was gibt es?"
„Du solltest auf den Dorfplatz kommen. Unsere Freunde des westlichen Rudels werden in Kürze mit unserem ‚Gast' bei uns ankommen."
Augenblicklich saß Samuel senkrecht im Bett. „Ich bin sofort da."
Nur kurz zog der Alpha eine Hose über, lief dann mit nacktem Oberkörper nach draußen, wo Keral bereits dafür gesorgt hatte, dass ausreichend Fackeln entzündet worden waren.
„Also ist der Überfall auf die Kutsche gelungen?" Fragend sah Samuel zu Keral, der ihm bestätigend zunickte.
„Verluste?"
„Keine, Alpha. Wir haben den Vampiren zwar ordentlich eingeheizt, aber auch auf ihrer Seite gibt es keine Verluste. Die Wachen haben uns noch eine Weile verfolgt, mussten aber schließlich aufgeben und sich zurückziehen."
„Was ist mit dem Mädchen?"
„Schläft, nachdem wir sie mit Vampirkraut ruhig gestellt haben. Sie und ihre Mutter waren zu überrumpelt, als dass sie wirklich Gegenwehr geleistet hätten."
Samuel hob skeptisch die Augenbraue. „Ihre Mutter?"
„Ja, Alpha. Sie hat es sich wohl nicht nehmen lassen, ihre Tochter persönlich abzuholen. Inzwischen dürfte sie auch wieder zurück auf der Burg sein. Die Vampire wissen also, dass wir ihre Tochter haben."
Der Rudelführer brummte leicht. „Früher oder später hätten sie ohnehin davon erfahren."

Ungeduldig blickte Samuel zum Waldrand, bis sich schließlich seine Miene sichtlich erhellte.
„Sie kommen", erklärte er zufrieden, als er Bewegungen zwischen den Bäumen wahrnahm.
Kurz darauf brachen mehrere seiner eigenen Krieger aus dem Unterholz hervor.
Ihnen folgten zwei imposante Wandler – beide in Menschengestalt, von denen einer ein junges Mädchen über der Schulter liegen hatte.
Als Letztes betraten einige fremde Werwölfe in ihrer Wolfsform die Lichtung.
Samuel trat einen Schritt nach vorne und verneigte sich leicht.
„Willkommen Anwar und Ramos, Anführer des westlichen Rudels", grüßte er die beiden Männer respektvoll.
„Ich danke Euch für Euren Besuch und Eure Hilfe."
Ramos ließ das schlafende Kind von seiner Schulter gleiten und legte es erstaunlich sanft auf die Wiese.
Sofort trat Samuel näher auf die beiden zu und musterte Helena neugierig. „Sie ist ja wirklich fast noch ein Kind", murmelte er erstaunt.
Anwar grinste leicht. „Ja. Ein Grund mehr für den König der Blutsauger, Gift und Galle zu spucken."
Der andere Alpha streckte seine Hand aus. „Ich danke Euch für Eure Hilfe, Anwar und lade Euch ein, meine Gäste zu sein. Wir haben leider nicht viel zu bieten, da wir erst vor Kurzem hierher gezogen sind, doch was wir haben, teilen wir gerne."
Anwar ergriff die dargebotene Hand. „Wir helfen, wo wir können, und sind zufrieden mit dem, was wir kriegen. Ich hoffe, Ihr habt bereits eine sichere Zelle?"
Samuel nickte und sah zu seinem Beta, der inzwischen neben ihn getreten war und die Gäste ebenfalls begrüßt hatte.
„Ich habe heute Nachmittag persönlich alles vorbereitet. Ich denke, es wird den Ansprüchen genügen, auch wenn es keine direkte Zelle ist. Der Platz liegt tief in den verborgenen Gängen. Selbst, wenn dem Mädchen die Flucht gelingen sollte, würde sie den Weg ins Freie nicht finden", erklärte Valentin. „Am besten bringe ich sie sofort dorthin. Ihr seid natürlich eingeladen, mich zu begleiten."

Gemeinsam betraten die Anführer der beiden Rudel die verborgenen Gänge, wobei Ramos die schlafende Helena wieder über seine Schulter gelegt hatte.
Immer tiefer führte Valentin die Gäste in den Berg hinein.
„Bereits jetzt würde ich nur noch schwer zurückfinden", murmelte Anwar nicht ohne ein gewisses Unwohlsein.
Samuel gab Valentin ein Zeichen und dieser blieb stehen.
„Wir kennen uns kaum. Bisher habt Ihr Nichts, als den Freundschaftsbund mit meinem Krieger Keral. Dennoch vertraut Ihr mir, was ich Euch hoch anrechne, Alpha des westlichen Rudels.
Lasst mich Euch im Gegenzug ebenfalls mein Vertrauen entgegenbringen."
Skeptisch musterten Anwar und Ramos den fremden Alpha, traten zur Sicherheit einen Schritt näher aufeinander zu.
„Der Zugang zu diesem Teil des Höhlensystems ist nur einigen wenigen meiner Krieger gestattet. Anders, als in den anderen Bereichen, wo es überall Fackeln zur Orientierung gibt, sind die Wegmarken hier deutlich versteckter. Wer sie nicht kennt, wird sich unweigerlich verlaufen. Zum Zeichen meines Vertrauens möchte ich Euch in die geheimen Markierungen einweihen."
Überrascht hob Anwar den Blick, verneigte sich dann jedoch leicht. „Das wird nicht nötig sein, Alpha Samuel. Allein Euer Angebot ehrt Euch und ist daher ausreichend.
Samuel schüttelte den Kopf. „Ich möchte es aber."
Nur leicht hob er die Fackel und beleuchtete die Höhlenwände, wo, kaum sichtbar, kryptische Zeichen eingeritzt waren und erklärte diese.

Es ging noch tiefer in den Berg hinein. Schließlich stoppte Valentin im toten Ende eines kleinen Nebenganges.
„Hier ist es", erklärte Valentin.
„Es gibt zwar keine Tür, aber sollte dennoch ausreichend sein. Das Mädchen kann schreien, so laut es will – niemand wird sie hören. Und angekettet mit Silberfesseln ist ein Entkommen ohnehin unmöglich.
Der Beta hob seine eigene Fackel, hielt sie empor und beleuchtete die schweren Eisenringe, die sicher in den Fels eingelassen waren.
Anwar nickte seinem Beta zu, der Helena daraufhin auf den Strohsack am Boden legte.
Valentin hatte seine Fackel unterdessen in eine Halterung einige Meter entfernt gehängt. Mit wenigen Handgriffen schloss er die bereit liegenden Ketten um die Gelenke der jungen Gefangenen und kontrollierte deren Sitz.
„Das sollte reichen", stellte er fest, nachdem er die Fesseln ein letztes Mal geprüft hatte.
„Sollen wir ihr die Fackel da lassen?"
Samuel brummte nachdenklich. „Sie ist trotz allem noch ein Kind. Ich würde also sagen: ja. Was meint Ihr?"
Fragend sah er zu seinen neuen Freunden.
Anwar und Ramos nickten. „Lasst dem Mädchen die Fackel. Sie ist wirklich noch jung. Es ist nicht nötig, ihren Aufenthalt hier schlimmer als nötig zu gestalten."
Samuel nickte zufrieden. „Dann wäre das entschieden. Lasst uns nun zurückkehren."


Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die GeiselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt