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Langsam begann die weiße Wölfin sich zu regen und schlug schließlich die Augen auf.
Sie kam auf die Beine und streckte die von der Nacht steifen Glieder, hob dann den Kopf in den Nacken und stieß ein Heulen aus.
Sofort legte Leon die Hand auf den Türriegel, um diesen zurückzuschieben.
Kopfschüttelnd stoppte Baran seinen Freund. „Nicht, solange sie in ihrer Wolfsgestalt ist, Leon. Wir wissen nicht, wie sie reagieren wird."
Der Vampir knurrte unwillig, ließ die Hand aber sinken.
„Tia?", rief er stattdessen in die dunkle Zelle hinein. „Kannst du dich zurück wandeln?"
Langsam senkte die weiße Wölfin den Kopf, doch nichts geschah.
„Tia?", fragte Leon erneut nach.
Die Werwölfin trat näher an die Wand, gab so den Blick auf das Bündel Kleidung frei, das hinter ihr lag.
„Oh." Leon kratzte sich verlegen am Kopf.
Baran unterdrückte ein Kichern und schloss die Klappe. „Geben wir ihr einen Moment, mein Freund."
„Ich bin soweit", drang die erschöpfte Stimme des Mädchens kurz darauf dumpf durch die Tür.
Erneut musste Baran Leon aufhalten, nicht in die Zelle zu stürmen.
„Ich komme jetzt zu dir rein, Tia", erklärte der Hauptmann ruhig. „Du weißt ja, dass wir dir die Silberfesseln jetzt anlegen müssen."
Tia seufzte. „Ich weiß, Baran", erwiderte sie matt.
Als Baran in den kleinen Raum trat, stand das Mädchen aufrecht in der Mitte der Zelle, wich aber leicht zurück, als Kiran und Levin ebenfalls die Kerkerzelle betraten.
Der Hauptmann hob beschwichtigend die Hände. „Alles gut, Tia. Es ist leider nötig."
Die Wandlerin nickte nur und ließ es zu, dass die beiden Wachen ihr den silbernen Halsreif, sowie die Handreifen anlegten, stöhnte nur leicht, als das Silber ihre Haut berührte.
„Es tut mir leid, Tia." Leon hatte sich an den anderen Vampiren vorbeigedrängt und legte dem Mädchen sanft die Hand auf den Arm.
Diese zuckte hilflos die Schultern. „Es war ja mein eigener Vorschlag." Sie lächelte matt.
Leons Augen blitzten rot auf. „Trotzdem. Du solltest deinen Geburtstag nicht so verbringen müssen. Alles Gute, übrigens."
Die junge Frau errötete leicht. „Danke, Leon."
Baran trat nun auch neben Tia. „Von mir auch alles Gute. Aber jetzt sollten wir dich hier raus holen. Leider darf ich dich nur in deine Zelle vom Anfang bringen. König Simon möchte zuerst sichergehen, dass die Silberfesseln wirklich ausreichen, um dich zu kontrollieren.
Tia nickte matt. „Damit habe ich fast gerechnet." Sie zögerte. Sofort wurde Leons Blick besorgt.
„Könnt ihr wenigstens meinen Leuten irgendwie mitteilen, dass ich meine Wandlung gut überstanden habe?"
„Natürlich", erwiderte Leon sogleich, doch Baran schüttelte ein weiteres Mal den Kopf. „Ich werde sehen, was ich tun kann, Tia."
* * *
„Vater, bitte. Tia hat Schmerzen. Es geht ihr nicht gut."
Ein weiteres Mal saß Leon Simon gegenüber in dessen Büro, der jedoch nur den Kopf schüttelte.
„Sie wusste, worauf sie sich einlässt. Sie wusste, dass die Fesseln ihr Schmerzen bereiten werden, und hat es dennoch vorgeschlagen. Entweder die Ketten, oder eine Zelle ganz unten."
Leon knurrte verärgert. „Na gut. Ich sehe ein, dass du Tia unter Kontrolle wissen willst, vor allem wenn Mutter heute mit Helena zurückkommt. Aber können wir die Anzahl der Fesseln nicht wenigstens reduzieren? Nur der Halsreif sollte meiner Meinung nach ausreichend sein."
„Richtig. Ich will kein Risiko eingehen. Ich freue mich, dass Helena endlich soweit ist, dass sie uns besuchen darf. Deine Mutter hat es sich natürlich nicht nehmen lassen, sie persönlich abzuholen. Aber ich will keinen von beiden einem Risiko aussetzen. Die Fesseln bleiben also."
Leon schüttelte nur den Kopf. „Das will ich doch auch, Vater. Du tust gerade so, als ob mir alle anderen egal wären, aber du vergisst eine Sache."
Interessiert legte Simon seinen Kopf schief und sah Leon fragend an.
„Als wir Tia heute aus der Zelle holen wollten, war sie noch in Wolfsgestalt. Ihre Kleidung hatte sie abgelegt. Wir können also davon ausgehen, dass diese sonst zerstört worden wäre durch den größeren Wolfskörper. Was auch erklärt, warum die Wandler nackt sind, wenn sie sich vor einem wandeln."
Simon runzelte die Stirn. „Das weiß ich. Aber worauf willst du hinaus?"
Leon grinste leicht. „Dass selbst ein normaler, eiserner Reif ausreichend wäre. Sollte Tia versuchen, sich zu wandeln, würde sie sich selbst damit strangulieren."
Überrascht hob der König die Augenbraue. „Du hast recht, Sohn. Daran habe ich gar nicht gedacht. Andererseits ..."
Leons Augenbrauen zogen sich verärgert zusammen, doch Simon legte ihm nur die Hand auf den Arm.
„Andererseits sollte zumindest ein Teil Silber enthalten sein. Gerade so viel, dass eine versehentliche Wandlung effektiv verhindert wird. Es ist keinem geholfen, wenn das Mädchen die Kontrolle verliert, sich aus Versehen in ihren Wolf verwandelt und sich dabei verletzt.
Der Prinz knurrte verstimmt, konnte den Worten seines Vaters jedoch nichts entgegensetzen.
„Ich werde Amron anweisen, einen entsprechenden Halsreif anzufertigen, Leon", versprach Simon.
„Und was ist mit der Zelle?" Der König fauchte gereizt. „Überspann den Bogen nicht, Sohn. Ich habe jetzt schon zugestimmt, dass sie weniger Fesseln und weniger Silber tragen muss. Einer anderen Zelle werde ich vorerst nicht zustimmen. Nicht, solange wir nicht sicher wissen, ob diese Maßnahmen ausreichend sind."
Leon senkte den Kopf und gab sich geschlagen. „In Ordnung. Aber wenn sie sich ruhig verhält ..."
„... wenn sie sich ruhig verhält, werde ich DANN entscheiden, was ich tue", unterbrach Simon seinen Sohn.
* * *
Die Sonne senkte sich bereits wieder, als Leon und Baran erneut hinunter in den Kerker stiegen.
Sichtlich nervös drehte Leon das kleine Päckchen in den Händen hin und her, das er Tia geben wollte. Baran hingegen hatte den neuen Eisenring in der Hand, der noch warm vom Schmieden war.
„Sie wird sich bestimmt über dein Geschenk freuen, Leon", versuchte der Hauptmann seinen Freund zu beruhigen.
Kurz darauf betraten sie gemeinsam die Zelle.
Tia lag matt und erschöpft auf dem Bett. Nur mit Verzögerung reagierte sie auf die Eintretenden und setzte sich mühsam auf.
Leon unterdrückte ein Knurren. „Wie geht es dir, Tia?"
Die Wandlerin lächelte schwach. „Ich habe Schmerzen und mir geht das Sonnenlicht ab, aber sonst ..."
„Gegen die Schmerzen habe ich vielleicht etwas, Tia." Tia sah den Hauptmann fragend an, der einen Schritt nach vorne machte und den Halsreif emporhielt.
„Noch mehr Silber?", hakte Tia skeptisch nach.
„Nein. Dieser Reif besteht nur zur Hälfte aus Silber, sollte eine Wandlung aber dennoch effektiv unterbinden. Ohnehin sind wir darauf gekommen, dass du dich tunlichst nicht verwandeln solltest. Es sei denn, du willst dich selbst strangulieren."
Entsetzt schüttelte Tia den Kopf.
„Dann lass mich dir den neuen Reif anlegen."
Baran beugte sich nach vorne, legte Tia den Ring, der wie angegossen passte, um den Hals und löste die Silberfesseln. Erleichtert atmete das Mädchen auf. „Viel besser."
Erst jetzt trat auch Leon einen Schritt nach vorne. Nervös hielt er das Päckchen empor. „Ich habe ein Geschenk für dich, Tia. Zu deinem Geburtstag. Ich hoffe, es gefällt dir", sprach er viel zu schnell.
Lächelnd griff die Wandlerin nach dem Präsent und wickelte es behutsam aus dem Papier aus.
Mit einem Stirnrunzeln blickte sie auf das Buch. „Sagen, Märchen und Legenden der Vampire", las sie irritiert vor.
Leon senkte betreten den Kopf. „Wir haben in letzter Zeit so viele Werwolfgeschichten kennengelernt, ich dachte ...." Der Vampir stockte, entspannte sich aber, als er Tia lächeln sah. „Vielen Dank, Leon. Ich bin schon sehr gespannt auf eure Geschichten. Und zusätzlich, habe ich etwas, mit dem ich mich beschäftigen kann." Tia zögerte kurz, bevor sie etwas wehmütig fortfuhr. „Die Bücher sind ja in der anderen Zelle."
* * *
Die Dämmerung hatte die Landschaft in ein fahles Zwielicht getaucht, als eine Kutsche sich in hohem Tempo der Burg näherte. In einem fast halsbrecherischen Tempo ritt ein Vampir dem Gefährt voraus.
„Lasst die Zugbrücke herab", brüllte er, kaum, dass er in Rufweite war.
Sofort betätigten die Wachen den Mechanismus und ließen die Brücke nach unten. Noch bevor diese vollständig den Boden berührte, zwang der Reiter sein Tier in einem Sprung über den Spalt. Kurz darauf rumpelte die Kutsche über die Holzplanken.
„Holt den König!" brüllte der Reiter und sprang im vollen Ritt vom Rücken des Tieres.
Der Kutscher zog scharf die Zügel an und brachte die schnaubenden Tiere zum Stehen.
Nur wenige Augenblicke später stürmte König Simon in den Burghof.
„Was ist geschehen?", verlangte er, zu wissen, während er bereits den Kutschschlag aufriss.
„Wir wurden überfallen, Hoheit. Eure Tochter ..." Er kam nicht weiter, denn Indra stürzte sich schluchzend in die Arme ihres Gatten.
„Sie haben Helena entführt."

Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die GeiselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt