Draußen war es noch dunkel.
Fröstelnd wickelte Nuri sich dichter in ihre Decke. Der Kamin war längst erloschen und im Zimmer war es kalt geworden. Doch auch dicht in die Decke gewickelt, fror das Mädchen noch. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte ihr jedoch, dass es noch viel zu früh war, um aufzustehen. Die ganze Burg lag noch still und im tiefen Schlaf.
Immer wieder wanderte Nuris Blick zwischen dem Kamin und ihrem Bett hin und her. Die Zeit, in der sie lediglich mit zwei Steinen versucht hatte, ein Feuer zu entfachen, war lange vorbei. Inzwischen war sie geübt darin, den Kamin schnell zu entfachen. Sie müsste nur aufstehen und hinübergehen. Doch das hieße auch, sich aus der wärmenden Decke zu wickeln und sich der Kälte Preis zu geben.
Unwillig brummte Nuri vor sich hin. Dann fasste sie einen Entschluss. Sie stand auf, schlüpfte in die wärmenden, mit Schafwolle gefütterten Pantoffeln, und wickelte sich in die Decke.
Mit tapsenden Schritten ging sie auf die Tür ihres Zimmers zu und verließ die Kammer.Im Nebenraum war Jonathan längst erwacht. Bereits beim ersten Frösteln des Mädchens hatte er die Augen aufgeschlagen. Die Augen weiterhin geschlossen lauschte er in die scheinbare Stille. Mit einem sachten Lächeln stand er kurz darauf auf und kniete sich vor den Kamin. Ihm selbst machte die Kälte nichts aus, dennoch sorgte er stets dafür, dass neben seinem Kamin genug trockenes Holz lag – und das nicht nur, weil er das Geräusch des prasselnden Feuers und den Geruch des brennenden Holzes mochte.
Mit wenigen Handgriffen hatte er ein Feuer entfacht. Sofort verbreitete sich eine angenehme Wärme in seinem Schlafzimmer und heizte die kalte Luft auf.
Mit einem Schmunzeln legte sich Jonathan zurück in sein Bett und zog die Decke hoch.
Einen Moment lauschte er in die Nacht hinein und schloss dann die Augen.Bemüht, kein Geräusch zu machen, zog Nuri die Tür hinter sich zu. Auf Zehenspitzen schlich sie durch das ebenfalls kalte Wohnzimmer und blieb vor dem nächsten Zimmer stehen.
Ohne zu zögern drückte sie die Klinke herunter und schlüpfte durch den schmalen Spalt.
Sofort hörte sie das leise Knacken der brennenden Scheite und begann selig zu strahlen.
Nuri ließ die Decke von ihrer Schulter gleiten. Die Decke hinter sich herziehend, ging sie – geleitet durch den sanften Schein des Feuers – auf das große Bett zu. Erst direkt vor dem Himmelbett blieb sie stehen.Jonathan blieb regungslos und mit geschlossenen Augen liegen, doch seine Mundwinkel zuckten verdächtig.
„Papa Jonathan?" Nuris Stimme glich einem Flüstern.
Der Vampir lachte leise und schlug die Decke zurück.
„Komm schon zu mir, Nuri. Du weißt, dass ich dich längst gehört habe und wach bin."
„Aber du sahst aus, als ob du schläfst", widersprach das Mädchen vorwurfsvoll.
Grinsend rutschte Jonathan ein Stück zur Seite. Sofort kletterte Nuri zu ihm ins Bett.
„Das Feuer ist ausgegangen und es war so kalt", erklärte sie, während sie sich bereits an Jonathan schmiegte. Als der kalte Körper des Vampirs sie berührte, zuckte sie kurz zusammen.
„Und da dachtest du, du schmiegst dich lieber an einen kalten Vampir, anstatt den Kamin wieder anzumachen." Gespielt vorwurfsvoll schüttelte Jonathan den Kopf, doch Nuri grinste ihn nur an.
„Bei dir ist es einfach schöner. Und ich wusste, dass du bestimmt gleich den Kamin anmachst."
„Da hast du recht, meine Kleine. Aber trotzdem sollten wir dich jetzt warm einpacken. Du bist viel zu kalt für einen Menschen."
Sorgsam wickelte er Nuri in ihre eigene Decke. Erst dann zog er sie dicht an sich und zusätzlich unter seine Decke. „Geht es so?"
„So ist es perfekt.". Das Mädchen strahlte und unterdrückte ein Gähnen„Aber jetzt solltest du noch etwas schlafen, meine Kleine. Es ist noch mitten in der Nacht."
Sofort zog Nuri einen Schmollmund. „Aber ich bin gar nicht mehr müde."
Jonathan lachte amüsiert auf. „Und deshalb musst du auch so gähnen, nicht wahr?"
„Aber ich konnte dir noch gar nicht erzählen, was ich die letzten zwei Tage erlebt habe. Du warst ja wieder in Thurin und als du gekommen bist, war ich schon im Bett", versuchte es das Kind erneut.
Jonathan seufzte. „Nuri, es ist wirklich spät. Kannst du mir das nicht beim Frühstück erzählen? Ich möchte nicht, dass du morgen bei der Arbeit müde bist."
„Aber es war etwas so Tolles!"
Der Vampir lächelte milde. „Nagut. Dann erzähl es mir jetzt."
Mit einem Strahlen strampelte Nuri sich aus der Decke frei und drehte sich zu Jonathan um.
„Ich habe das Werwolfmädchen gesehen. Ich durfte ihr sogar im Bad helfen und Frühstück bringen."
Jonathan zog skeptisch die Augenbraue nach oben. „Dafür hatte ich dich doch gar nicht eingeteilt?"
Nuri grinste. „Aber Leon."
Tadelnd blickte Jonathan sie an. „Es heißt: Prinz Leon, Nuri."
Erneut zog Nuri einen Schmollmund. „Aber er hat gesagt, dass ich Leon zu ihm sagen darf."
Der Vampir lächelte. „Er mag dich, Nuri. Und wenn er dir erlaubt, ihn beim Vornamen zu nennen, dann ist das in Ordnung. Aber nur wenn du mit ihm alleine bist, ja?"
„Ja, Papa Jonathan."„Und wie fandest du die Wandlerin?"
„Sie ist nett. Und sie war sehr freundlich zu mir. Warum muss sie eigentlich eingesperrt sein?"
Jonathan seufzte. „Das ist kompliziert, Nuri. Du weißt ja von dem Krieg...", begann er zu erklären. „Unser König hat eine Prophezeiung gefunden. Und laut dieser kann es endlich zum Frieden kommen, wenn die Wandlerin bei uns ist."
Zweifelnd blickte das Mädchen den Vampir an. „Aber ihre Familie wird doch sicher sauer sein? Werden sie nicht noch mehr kämpfen?"
Nachdenklich nickte Jonathan. „Du bist sehr schlau, meine kleine Nuri. Das ist natürlich zu befürchten, aber was die Wölfe tun, wird nur die Zeit zeigen. Jetzt ist erst einmal wichtig, dass das Mädchen sich nicht wandelt."
Nuri nickte. „Als Werwolf ist sie gefährlich."
„Das auch, Nuri. Aber sie wird sich das erste Mal wandeln, wenn Vollmond ist. Und da die Wandler dann zu besonders starken Werwölfen werden, möchte unser König das natürlich verhindern."
Nachdenklich knabberte Nuri auf ihrer Unterlippe. „Das ist verständlich. Aber irgendwie tut das Mädchen mir leid. Sie macht nicht den Eindruck, als ob sie gefährlich ist."
Lächelnd strich Jonathan ihr über den Kopf. „Du hast ein gutes Herz, Nuri. Aber jetzt solltest du wirklich schlafen. Du willst doch nicht müde sein, wenn du morgen wieder bei Prinz Leon bist."
Sofort schüttelte Nuri den Kopf und kuschelte sich dichter an den Vampir.
„Hilfst du mir beim Einschlafen, Papa Jonathan?"
Jonathan lächelte. „Wenn du das möchtest, meine Kleine..."
Sofort nickte Nuri eifrig.
„Dann mach die Augen zu.", forderte er das Kind mit einem Schmunzeln auf.
* * *
Simon stand am Fenster seines Büros und blickte zum Wald. Die Sonne stand dicht über den Wipfeln der Bäume. Immer wieder sah er Wandler – mal in Wolfgestalt, mal in Menschengestalt – die am Waldrand entlang liefen. Von Zeit zu Zeit brachen kleinere Gruppen aus den Schatten des Waldes hervor und näherten sich der Burg. In sicherer Entfernung liefen sie an der Mauer entlang, bevor sie wieder im Wald verschwanden.
Seit dem Vortag war die hölzerne Zugbrücke hochgezogen und wurde nur bei Bedarf herunter gelassen.
An der Seite des Königs stand Liam und blickte ebenfalls hinaus.
„Die Angriffe haben gestern in den Morgenstunden gestartet, mein König. Zuvor gab es lediglich immer wieder Spähertrupps, wie diese dort hinten", erklärte der General und deutete auf drei Wölfe, die am Waldrand entlang liefen."
Der König stieß ein unwilliges Knurren aus.
„Bis jetzt gab es nur vereinzelte Verluste auf unserer Seite. Einzelne Krieger, die alleine draußen waren. Seitdem habe ich Anweisung gegeben, dass weder Mensch noch Vampir die Burg ohne Begleitung verlässt."
Simon nickte. „Was ist mit Boten und Lieferanten, die zu uns kommen?"
„Boten – so sie menschlich waren – haben die Wölfe derzeit noch nicht angegriffen. Die Lieferungen haben sie jedoch abgefangen. Anscheinend wollen sie uns von Nachschub abschneiden."
„Immerhin lassen sie die Menschen in Ruhe. Ich werde dennoch einen Raben schicken, dass auch Boten nicht mehr alleine hierher reisen sollen. Nur um sicherzugehen. Diesen Wölfen ist nicht zu trauen."
Liam nickte. „Die Zugbrücke ist ebenfalls seit gestern hochgezogen. Bisher trauen sich diese Hunde zwar nicht ganz Nahe an die Burg heran, aber ich möchte sie ungerne plötzlich als Meute über die Brücke stürmen sehen."
Simon wandte den Kopf. „Das birgt aber auch eine Gefahr für die, die zu uns kommen wollen, General."
„Das ist wahr, Hoheit. Aber die Sicherheit von Euch und Eurer Familie geht in diesem Fall vor. Allerdings habe ich zusätzliche Wachen auf dem Turm postiert, die die Umgebung im Auge behalten. Diese melden, sobald jemand Berechtigtes sich der Burg nähert. In diesem Fall wird die Zugbrücke rechtzeitig herunter gelassen und zwei Einheiten sorgen für den nötigen Schutz von Burg und Reisenden."
Erneut sah der König aus dem Fenster. „Damit sollte dieses Problem auch gelöst sein."
„Was mir jedoch Sorge macht...", fuhr Liam in ernsterem Tonfall fort.
Ruckartig wandte sich Simons Kopf ihm wieder zu. „Wenn man die letzten Tage betrachtet, nimmt die Intensität der Reaktionen der Wandler sehr schnell zu. Ich fürchte, wenn wir nichts unternehmen, dauert es nicht mehr lange und sie versuchen, die Burg zu stürmen."
Simon knurrte. „Das sollen sie bloß wagen. Bis jetzt war ich ihren Angriffen gegenüber milde gestimmt. Wir haben ohnehin damit gerechnet. Schließlich haben sie es angekündigt."
„Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Hoheit?"
„Sprecht."
„Ich denke, die Wandler sind getrieben von der Sorge um ihr Rudelmitglied. Vielleicht beruhigt es sie, wenn sie sehen, dass es dem Mädchen soweit gut geht und wir sie angemessen behandeln."
Simon legte nachdenklich den Kopf schief. „Ihr bringt mich auf eine Idee. Das Mädchen ist recht kooperativ.
Ich konnte Baran sogar anweisen, ihr die Silberfesseln abzunehmen. Sofern sich ihr Verhalten dadurch seit gestern nicht zum Negativen verändert hat, wäre ich durchaus gewillt, sie in der obersten Ebene des Kerkers unterzubringen. Das würde für sie einige Annehmlichkeiten mit sich bringen, was sie vielleicht dazu bringt, auch weiterhin kooperativ zu bleiben. Zusätzlich hätte ihr Rudel die Möglichkeit, sie am Fenster zu sehen. Vielleicht beruhigen sie sich, wenn sie sehen, dass es dem Mädchen gut geht."
Der General blickte nachdenklich zum Wald. „Eine durchaus interessante Idee, mein König. Und selbst wenn sie versuchen, gemeinsam Fluchtpläne zu schmieden, bliebe das bei dieser Entfernung nicht unbemerkt."
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Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die Geisel
VampirDie Vampire haben die alte Schriftrolle gedeutet. Es ist ihnen gelungen, die junge Wandlerin Tia zu entführen und sicher im Kerker wegzusperren. Dort soll das Mädchen künftig ihr Dasein fristen. Doch ihr Rudel wird alles daran setzen, Tia zu befreie...