11.

40 3 6
                                    


Kurz darauf betrat Baran erneut die Zelle.
Amüsiert wanderte sein Blick zu Leon, der neben Tia auf der Bettkante saß und gerade in diesem Moment ein Tuch ausdrückte, um dem Mädchen damit die heiße Stirn zu kühlen.
Dann wurde er jedoch wieder ernst und setzte sich auf den Stuhl.
„Hat sie erneut Fieber?"
„Ich glaube schon. Zumindest fühlt sie sich sehr heiß an. Am Anfang war sie auch unruhig und hat sich immer wieder im Schlaf hin und her geworfen. Aber als ich mich zu ihr gesetzt habe, ist sie ruhiger geworden."
Baran ließ seinen Blick prüfend über Tia wandern. „Sie wirkt so schwach und zerbrechlich. Immerhin war ich bei deinem Vater erfolgreich. Er ist damit einverstanden, ihr vorerst keinen Wolfswurz zu geben. Aber nur, bis sie wieder gesund ist."
Leon legte das feuchte Tuch zur Seite und strich Tia eine Strähne aus der Stirn.
„Hoffentlich wird sie bald gesund. Und danach sehen wir weiter. Auf jeden Fall werde ich erst einmal hier bei ihr bleiben. Ich will sichergehen, dass sich Tias Zustand nicht verschlechtert."
Baran verzog die Mundwinkel.
„Da muss ich dich leider enttäuschen, Leon. Ich habe vorhin den Brief der Werwölfe geholt. Dein Vater hat bereits angekündigt, dass er ihn mit dir und den Fürsten besprechen möchte."
Leon knurrte unwillig. „Dann gehe ich am besten gleich zu ihm. Umso schneller ist die Sache erledigt."
Baran nickte. „Und ich werde bei dem Mädchen bleiben."

Leon lenkte seine Schritte direkt in den Besprechungssaal. König Simon stand am Fenster, drehte sich aber um, als sein Sohn neben ihn trat.
„Ah. Du bist schon da. Ich wollte gerade Linus damit beauftragen, dich zu mir zu schicken."
Leon grinste nur und zuckte die Schultern.
„Ich habe Baran getroffen und er hat mir gesagt, dass es etwas zu besprechen gibt."
„Das stimmt. Die Fürsten sollten gleich eintreffen. Setz dich und lies solange den Brief, der an meinem Platz liegt. Er wurde heute Nachmittag für uns abgelegt."
Leon runzelte die Stirn und zog dabei eine Augenbraue hoch. Wortlos trat er an die Stirnseite der Tafel, nahm auf dem kleineren der beiden Throne Platz und griff nach dem Pergament.
Rasch wanderten seine Augen über die sorgfältig geschriebenen Zeilen.
Mit einem Kopfschütteln ließ er den Brief sinken. „Das war doch zu erwarten, Vater. Aber was wollen sie uns schon anhaben? Ich denke, hier auf der Burg sind wir sicher."
„Davon gehe ich auch aus, Sohn. Dennoch müssen wir gemeinsam überlegen, wie wir darauf reagieren wollen. Antworten wir den Wandlern? Ignorieren wir den Brief? Das will wohl bedacht sein."
Nach und nach betraten alle Fürsten den Raum und nahmen ihre Plätze ein. Als auch der letzte im Saal angekommen war, schloss Linus die Türen und trat seitlich hinter Simon.
Als dieser ihm jedoch ein Zeichen gab, beugte er sich näher zu seinem König.
Kurz darauf nickte er. „Ich werde sie sogleich informieren, dass sie sich bereit halten sollen."
Der junge Vampir verließ den Besprechungsraum und schloss die Flügeltüren mit einem leisen klicken.
Erwartungsvoll sahen die Fürsten zu ihrem König, bis dieser schließlich aufstand.
„Wie ihr alle inzwischen mitbekommen haben dürftet, hat unser Plan, die Alphatochter zu entführen, funktioniert. Seit den frühen Morgenstunden befindet sich das Mädchen in unserer Gewalt, sicher weggesperrt im Kerker."
Simon lächelte milde, als lauter Jubel durch den Saal brandete.
Er hob leicht die Hand und Stille kehrte wieder ein. „Es ist also nicht verwunderlich, dass uns bereits am Nachmittag ein Brief von den Werwölfen erreicht hat, indem sie uns als feige und ehrlos bezeichnen. Natürlich fordern sie, dass wir das Mädchen freilassen und drohen uns, falls wir das nicht tun sollten. Darauf werden wir uns allerdings nicht einlassen. Im Grunde stehen sie mit dem Rücken zur Wand. Es bleibt ihnen fast nichts anderes übrig, als zu drohen. Aber wir werden uns nicht erpressen lassen.
Somit bleibt aktuell nur die Frage, ob wir diesen Brief ignorieren oder uns zu einer Antwort herablassen. Um dies zu diskutieren, habe ich euch hergebeten.
Zuvor wird Prinz Leon euch die Nachricht vorlesen.
Leon nickte knapp, griff nach dem Bogen und las den Brief mit klarer Stimme vor.
Simon nickte ihm dankend zu und wandte sich wieder an die Fürsten. „Ihr habt jetzt die Möglichkeit, euch gegenseitig auszutauschen."
Er setzte sich wieder hin, lehnte sich entspannt zurück und ließ die Männer sich miteinander besprechen.
Nach einer Weile kehrte wieder Ruhe ein und immer mehr Männer richteten ihren Blick auf den König.
„Wie ich sehe, habt ihr ausreichend diskutiert. Zu welchem Ergebnis seid ihr gekommen?"
Nurik blickte kurz in die Runde, stand auf und verneigte sich vor Simon und Leon.
„Wir haben das Für und Wider der zwei Optionen abgewägt, mein König. Beide Möglichkeiten haben ihre jeweiligen Vorteile. Lasst mich also zunächst erläutern, was FÜR eine Antwort spricht."
Simon beugte sich interessiert nach vorne und forderte Nurik mit einem Wink auf, fortzufahren.
„Die Wandler hätten die Gewissheit, dass der Brief uns in der Tat erreicht hat. Somit zwingen wir sie, in ihrer Reaktion eine klare Richtung einzuschlagen, was wiederum uns zu Gute kommt, da wir sie dadurch leichter einschätzen können und nicht so leicht überrascht werden. Außerdem erspart uns diese Variante unnötiges Geplänkel, das ohnehin nichts ändert. Die Werwölfe drohen mit Konsequenzen, müssen sie also ziehen, wenn sie wollen, dass wir sie weiterhin ernst nehmen. Sie werden daher wohl kaum weitere Briefe schicken, um die Angelegenheit auf diesem Wege zu lösen. Auch ihnen sollte die Sinnlosigkeit klar sein."
Leon beugte sich nun ebenfalls nach vorne, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte die Fingerspitzen aneinander.
„Sehr gut zusammengefasst, Fürst Nurik. Welche Punkte habt Ihr gefunden, die GEGEN eine Antwort sprechen?"
Der ältere Fürst verneigte sich einem Dank gleich vor Leon.
„Wir haben in der Tat Punkte gefunden, die GEGEN eine Antwort sprechen, wenn auch weniger."
Erneut gab Simon ihm einen Wink, die Ergebnisse vorzutragen.
„Unsere Antwort bestünde ohnehin nur in einer Abweisung ihrer Forderung. Somit könnte man sich ein derartiges Schreiben auch sparen. Indem wir nicht auf den Brief reagieren, würden wir die Wandler ebenfalls dazu zwingen, klar Stellung zu beziehen. Je nachdem was sie tun, könnten wir daraus Rückschlüsse ziehen, wie weit zu gehen sie bereit sind. Sollten sie zum Beispiel erneut einen Brief senden, wäre klar, dass sie hilflos sind und nicht wissen, was sie sonst tun sollen. Falls sie sich jedoch beispielsweise für einen Angriff entscheiden, beweist das, dass ihre Botschaft keine leere Drohung war. Beide Varianten ermöglichen es uns, unsere Strategie darauf auszurichten."
Nurik ließ seinen Blick durch die Runde gleiten. „Habe ich etwas vergessen?"
Allgemeines Kopfschütteln war die Antwort.
Simon erhob sich. „Ich danke Euch für Eure Ausführungen, Fürst Nurik. Zu welchem Ergebnis seid ihr gekommen?"
Nurik wandte sich erneut dem König zu. „Wir würden Euch empfehlen, den Wandlern eine knappe Antwort zu schicken, in der ihr lediglich den Erhalt des Briefes bestätigt und die Herausgabe der Alphatochter verweigert, ansonsten aber nicht groß darauf eingeht."
Der König strich sich nachdenklich über das Kinn. „Eine interessante Idee, Fürst Nurik. War er einstimmig?"
„Die Mehrzahl der Fürsten hat sich für diese Variante ausgesprochen, mein König. Drei von uns waren dagegen und zwei für eine ausführlichere Antwort."
Simon nickte und wandte sich Leon zu. „Was sagst du dazu?"
Der Prinz tippte grübelnd die Fingerspitzen aneinander.
„Ich halte es für einen sehr guten Vorschlag, zumal er von den meisten Fürsten befürwortet wird. Wir sollten es so machen, Vater."
„Dann ist es entschieden und ich werde noch heute Abend eine Antwort verfassen. Ich danke Euch für Eure Zeit. Ihr könnt nun gehen."
Ein Knirschen und Schaben entstand, als alle Fürsten aufstanden und beinahe gleichzeitig ihre Stühle zurück schoben, aufstanden und sich verneigten.
„Fürst Levin? Bleibt bitte noch auf ein Wort hier."
„Natürlich, Hoheit." Etwas zögerlich setzte Levin sich wieder.
Mit gerunzelter Stirn beobachtete er, wie die anderen Fürsten den Raum verließen.
Als sich die Tür hinter dem letzten Mann geschlossen hatte, wies Simon auf den freien Platz zu seiner Rechten. „Kommt etwas näher, Fürst."
Kaum, dass Levin neben Simon saß, öffneten sich die Flügeltüren erneut und Kiran und Lorin betraten den Raum, dicht gefolgt von Linus, der eine Mappe unter dem Arm trug und am kleinen Pult am Rande des Raumes Platz nahm.
Die beiden Krieger traten vor Simon und salutierten.
„Setzt euch." Dieses Mal wies der König auf die zwei Plätze neben Leon. „Es gibt etwas zu klären."
Er wartete, bis die Wachen saßen.
„Hauptmann Baran hat mich über einen Umstand informiert, der mein Missfallen erregt hat", ergriff Simon ohne weitere Umschweife das Wort.
Kiran und Lorin sahen sich kurz an und senkten dann verlegen die Köpfe.
„Wie ich sehe, scheint wenigstens ihr beiden zu wissen, worauf ich hinaus will."
Lorin hob den Blick. „Wir haben zumindest eine Vermutung, Hoheit. Geht es um das Wolfsmädchen?"
Simon neigte zustimmend den Kopf.
„In der Tat. Genau genommen darum, wie Baran das Mädchen in ihrer Zelle vorgefunden hat."
Der Blick des Königs wanderte zu Levin.
Der Fürst sah seinen Herrscher direkt an, schien aber nicht zu ahnen, worauf dieser hinaus wollte.
„Fürst Levin. Was ist geschehen, nachdem ihr das Mädchen festgesetzt habt?"
Der Angesprochene straffte sich etwas.
„Hauptmann Baran hat uns mit ihr zurück in die Burg geschickt. Er selbst wollte noch etwas erledigen."
Simon sah den Fürsten auffordernd an.
„Ich habe das Mädchen dann gemeinsam mit Kiran und Lorin in die Zelle gebracht und dort ...". Levin stockte und der König nickte, wirkte fast schon zufrieden.
„Ich denke, Ihr habt den entscheidenden Punkt soeben selbst erkannt, Fürst."
Zerknirscht senkte Levin den Kopf.
„Ihr meint, dass ich Kiran und Lorin angewiesen habe, das Mädchen an die Wand zu ketten?"
Simon brummte unwillig. „Das allein wäre noch nicht einmal das Problem gewesen. Also: Wenn Ihr sie lediglich festgekettet hättet. Aber warum bei unseren Ahnen habt Ihr das Mädchen so stramm fesseln lassen, dass sie – laut Baran – kaum den Boden berührt hat? Sie war bewusstlos und unter Wolfswurz. Welche Gefahr hätte von ihr ausgehen sollen?"
Levin schluckte und hob unsicher den Blick. Dann straffte er sich jedoch und sah Simon direkt an.
„Ich nehme die volle Schuld für dieses Fehlverhalten auf mich, Hoheit. Kiran und Lorin trifft keine Schuld. Sie haben mir sogar noch davon abgeraten."
Überrascht hob Simon eine Augenbraue und musterte Levin nachdenklich.
„Dieses Eingeständnis ehrt Euch, Fürst. Dennoch hätte ich von meinen Kriegern erwartet, zumindest ihrem Hauptmann Meldung zu machen."
Kiran richtete sich etwas auf. „Es tut uns leid, Hoheit. Wir hatten es eigentlich vor, doch dann mussten wir unplanmäßig zwei andere Krieger vertreten. Dadurch haben wir es versäumt, Meldung zu machen."
Simon nickte den beiden zufrieden zu.
„Es sei Euch verziehen. Was Euch betrifft..."
Simons Blick wanderte zurück zu Levin, der blass wurde.
Zitternd sank er auf die Knie. „Ich werde jegliche Strafe annehmen, Hoheit."
Kopfschüttelnd blickte der König auf den knienden Mann hinab und seufzte.
„Vertraust du mir so wenig, Levin? Was du getan hast, heiße ich nicht gut. Aber selbst, als du gegen mich und meine Entscheidungen aufbegehren wolltest, habe ich dir eine zweite Chance gegeben. Erhebe dich also und setz dich wieder. Und dann erklärst du mir, warum du nicht auf den Rat von zwei erfahrenen Kriegern gehört hast."
Noch immer blass setzte sich Levin wieder auf den Stuhl und zuckte hilflos die Schultern.
„Ich weiß es nicht wirklich, Hoheit. Jetzt, mit etwas Abstand, wäre es wirklich besser gewesen, auf Kiran und Lorin zu hören. Ich wollte einfach alles richtig machen, um Euch nicht erneut zu enttäuschen."
Nachdenklich strich Simon sich über das Kinn.
„Vielleicht erwarte ich noch zu viel von dir. Du bist noch jung und unerfahren. Habe ich dein Wort, dass sich etwas Derartiges nicht wiederholen wird? Und dass du in Zukunft auf den Rat erfahrener Männer achtest oder im Zweifelsfall bei mir nachfragst?"
Levins Augen weiteten sich vor Überraschung, als er den Kopf hob, um seinen Herrscher anzusehen.
„Ja, Hoheit. Ihr habt mein Wort."
Kurz verharrte er, dann blickte er zu Kiran und Lorin.
„Es tut mir leid, dass ich Euch in Schwierigkeiten gebracht habe. Ich gebe auch Euch mein Wort, in Zukunft auf Euren Rat zu hören."
Simon lächelte milde. „Damit wäre die Angelegenheit wohl geklärt. Ihr könnt gehen."

Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die GeiselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt