Es war noch früh am Morgen. Dennoch saß Simon schon – oder wohl eher noch – an seinem Schreibtisch. Ihm gegenüber saßen Baran und Liam.
Das Gesicht des Königs war von Sorgen zerfurcht, den Kopf hatte er schwer in seine Hände gestützt.
„Ich weiß nicht, ob wir damit nicht falsche Signale senden, mein König." Liam schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Gerade mit der aktuellen Entwicklung, könnten es die Hunde als ein Zeichen von Schwäche und Unsicherheit deuten. Sie werden denken, dass wir es nur tun, damit sie Helena gut behandeln."
Simon hob müde den Kopf.
„Das ist mir egal. Es wird ohnehin nicht die perfekte Lösung geben. Aber ich habe dem Mädchen mein Wort gegeben, sie zurück in die alte Zelle zu bringen, wenn ich mir sicher bin, dass sie keine Gefahr darstellt. Hauptmann Baran hat es mir bestätigt. Tia verhält sich genauso ruhig und kooperativ wie vor dem Vollmond. Ich sehe also keinen Grund, wortbrüchig zu werden."
„Aber ...", setzte Liam erneut an. „Nein, General. Ich lasse mich davon nicht abbringen. Dieser verdammte Krieg scheint immer mehr zu eskalieren. Selbst mein eigen Fleisch und Blut bleibt nun nicht mehr davon verschont. Da werde ich wenigstens meinen Werten treu bleiben."
Ohne eine Reaktion des Generals abzuwarten, wandte Simon sich an Baran.
„Bringt Tia heute Nachmittag in ihre alte Zelle zurück, Hauptmann. Stellt zur Sicherheit vorerst Wachen davor ab.
Baran erhob sich und salutierte. „Zu Befehl, mein König. Ich werde mich sofort darum kümmern."
Der Hauptmann wollte gerade den Raum verlassen, als Simon ihn noch einmal aufhielt.
„Eins noch, Baran."
„Ja, Hoheit?"
„Danach gehst du zu meinem Sohn und erzählst ihm von Tias Verlegung. Vielleicht hält ihn das von weiteren Dummheiten ab. Ich will gar nicht wissen, was er in die Nachricht an die Werwölfe geschrieben hat. Ich kann nur hoffen, dass er sich nicht zu einer Dummheit hat hinreißen lassen."
Barans Augen weiteten sich, dann fluchte er unterdrückt. „Tia hatte uns gebeten, ihr Rudel zu informieren, dass es ihr gut geht, sie die Wandlung gut überstanden hat. Leon war sofort einverstanden. Ich habe noch versucht, ihn zu bremsen, und wollte zuerst mit Euch Rücksprache halten, doch dann kam Eure Gemahlin zurück. Ich vermute, es ging ihm nicht schnell genug und er hat die Sache selbst in die Hand genommen."
Simon schüttelte matt den Kopf. „Ich kann es ihm fast nicht verübeln. Ich hoffe nur, er bleibt jetzt vernünftig."Mit verschränkten Beinen lag Leon auf dem Bett in Tias Zelle, den Rücken an die Wand gelehnt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
Tia selbst saß am anderen Ende des Bettes und hatte den Kopf in die Hände gestützt.
„Mein Vater will einfach nicht zustimmen, dich in deine alte Zelle zu verlegen", beschwerte sich der Vampir. „Dabei bezweifle ich, dass du irgendjemandem Schaden zufügen würdest. Dazu bist du viel zu vernünftig."
Tia lachte trocken auf. „Ich und vernünftig? Mein Vater, oder vielmehr jeder in meinem Rudel, würde das Gegenteil behaupten. Wenn irgendwo Chaos gestiftet wurde, wird als Erstes geschaut, wo ich bin."
Verblüfft richtete Leon sich ein Stück auf. „Aber hier bist du doch so besonnen?"
Hilflos zuckte die Wandlerin die Schultern und sah auf. „Weil ich keine andere Wahl habe, wenn ich nicht will, dass es mir noch schlechter geht. Weil die Mondgöttin selbst mir befohlen hat, mich zu fügen."
Resignierend ließ sie den Kopf wieder sinken. „Was glaubst du denn, würde dein Vater mit mir machen, wenn ich mich ihm widersetze?"
Leon brummte unwillig, richtete sich dann aber auf und betrachtete Tia prüfend.
„Geht es dir jetzt gerade schlecht?"
Erneut blickte das Mädchen ihn freudlos an. „Ich bin hier seit Tagen eingesperrt, kann mich kaum bewegen. Meine Wölfin lechzt danach, die Kontrolle zu übernehmen und sich freizukämpfen. Nur, um endlich durch die Wälder rennen zu können. Und das Silber im Reif hilft auch nicht gerade dabei, das Ganze erträglicher zu machen."
Tia schüttelte den Kopf, als Leon etwas einwenden wollte. „Ich weiß, es ist kein reines Silber. Aber dennoch IST es Silber. Trag du mal die ganze Zeit so einen Reifen."
Langsam beugte sich der Vampir zu Tia und hob sacht die Hand. „Darf ich?"
Behutsam berührte er den Reif. Sofort spürte er ein unangenehmes Kribbeln an seinem Finger, das langsam den ganzen Arm hinauf wanderte.
Verstehend nickte er. „Ich würde dir das so gerne ersparen, aber mein Vater wird sich nie darauf einlassen. Noch weniger nach dem, was deine Leute getan haben."
Ruckartig richtete Tia sich auf. Sie stöhnte leise, als sie die schmerzenden Muskeln und Gelenke derart abrupt beanspruchte.
„Ich habe eine kleine Schwester. Dein Rudel hat sie entführt."
Betreten senkte die Wandlerin den Blick. „Das tut mir leid, Leon. Wahrscheinlich hat mein Vater keinen anderen Ausweg mehr gesehen."
Leon nickte nur. „Helena ist doch noch ein halbes Kind."
Langsam stand er auf und ging unruhig in der kleinen Zelle auf und ab.
„Dieser Krieg wird immer schlimmer. Aber mein Vater will nicht einmal in Erwägung ziehen, dass es einen zweiten Teil der Prophezeiung geben könnte."
Zögernd trat er auf Tia zu. „Ich sehe nur noch einen Ausweg. Ich muss zu deinem Vater und mich ihm stellen."
Entsetzt erwiderte die junge Frau seinen Blick.
„Nein, Tia. Ich will nicht gegen ihn kämpfen." Leon lächelte matt. „Ich will mich ihm im Austausch für Helena anbieten. Sie hat in der Vergangenheit viele Fehler begangen. Aber sie ist immer noch meine Schwester, die ich schützen muss. Und vielleicht kommt mein Vater zur Vernunft, wenn ich, sein Thronfolger, weg bin", erklärte er düster.
Die junge Frau stand nun ebenfalls auf und zog Leon in ihre Arme. „Sie werden dich mit Silber fesseln. Das ist wie Folter."
Der Vampir nickte nur. „Davon gehe ich aus. Aber lieber mich als Helena."
„Ich wünschte, ich könnte dich begleiten ..."
Leon lächelte. „Danke Tia. Doch das ist nicht möglich. Aber du kannst mir auf andere Weise helfen. Ich weiß nicht, wann ich es schaffe, die Burg unbemerkt zu verlassen. Du darfst also niemandem sagen, was ich vor habe."
Tia nickte ernst. „Keine Sorge. Ich weiß zwar nicht, ob das wirklich eine gute Idee ist, aber dein Geheimnis ist bei mir sicher."
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Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die Geisel
VampirDie Vampire haben die alte Schriftrolle gedeutet. Es ist ihnen gelungen, die junge Wandlerin Tia zu entführen und sicher im Kerker wegzusperren. Dort soll das Mädchen künftig ihr Dasein fristen. Doch ihr Rudel wird alles daran setzen, Tia zu befreie...