Verärgert schlug Leon auf den Tisch des kleinen Besprechungsraums, in dem er mit seinem Vater, Baran und Liam saß. Das Holz knirschte verdächtig, als sich ein deutlich sichtbarer Abdruck von Leons Faust auf der Tischplatte abzeichnete.
Simon knurrte. „Reiß dich zusammen, mein Sohn. Du weißt genau, dass es nicht möglich ist, das Werwolfmädchen zu dir in deine Wohnung zu holen. Es ist zu gefährlich."
Leon schüttelte den Kopf. „Nein. In meiner Gegenwart ist sie ruhig und entspannt. Sie schafft es sogar, sich bei ihren Übungen zu kontrollieren."
General Liam musterte den Prinzen nachdenklich. „Euer Vater hat recht, Prinz Leon. Sie mag es schaffen, sich jetzt zu kontrollieren, aber was ist heute Nacht, wenn der Vollmond am Himmel steht?"
Leon knurrte unwillig. Schließlich ergriff Baran das Wort.
„Ich würde dir gerne zustimmen, mein Freund. Aber ich halte es auch für zu riskant. Zumindest heute Nacht.
„Und auch danach werde ich nicht erlauben, dass Tia sich außerhalb einer Zelle befindet", warf Simon sofort ein.
Der Prinz rieb sich erschöpft über das Gesicht. „Ich weiß doch selbst, dass es nicht ungefährlich ist. Aber ich halte das Risiko für kalkulierbar. Außerdem tut mir das Mädchen leid. Sie hat keinem von uns etwas getan. Und wenn sie langfristig hier leben soll, werden wir eine andere Lösung finden müssen, Vater. Hast du wenigstens noch einmal über die Prophezeiung nachgedacht?"
Simon schüttelte den Kopf. „Nein Leon. Tia ist eine Geisel und das wird sie bleiben, denn nur so kann der Frieden gesichert werden. Sie wird lernen müssen, damit klar zu kommen. Du hast doch selbst gemerkt, dass die Angriffe in ihrer Intensität nachgelassen haben, seit sich das Mädchen regelmäßig am Fenster zeigt. Was die Prophezeiung betrifft, bin ich mir sicher, dass da nichts ist. Wo sollte schon etwas sein?"Fluchend lenkte Leon seine Schritte in Richtung Kerker. Baran hatte sichtlich Mühe, seinem Freund zu folgen. „So warte doch Leon."
Gereizt drehte Leon sich um. „Was?"
„Dein Vater hat recht. Zumindest mit dem Punkt, dass es zu gefährlich ist, Tia aus der Zelle zu lassen."
Der andere Vampir fauchte wütend. „Stellst du dich jetzt auch auf die Seite meines Vaters?"
„Nein, Leon. So ist es nicht. Aber glaubst du nicht selbst, Tia würde die erste Gelegenheit zur Flucht nutzen, die sich ihr bietet? Oder einen von uns angreifen, sobald sie sich wandeln kann?"
Ein weiteres Mal brummte Leon unwillig auf.
„Denk doch auch an das, was Tia uns erzählt hat..."
„Ja. Was ihre Göttin gesagt hat, um uns zu beruhigen. Aber vielleicht ist Tia auch so bereit, zu kooperieren."
Baran blieb stehen und sah seinen Freund beinahe amüsiert an. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht, Leon."
„Ich dachte wirklich, du wärst auf meiner Seite und würdest Tia mögen."
„Das bin ich und das tue ich. Aber ich bin dennoch realistisch. Es ihr so angenehm wie möglich zu machen? Ja. Dabei werde ich dich jederzeit unterstützen. Aber um den Kerker wird sie nicht herumkommen. Und wenn du auch nur einen Moment in Ruhe darüber nachdenkst, weißt du das selber."
Inzwischen waren die beiden vor Tias Zelle angekommen. Gemeinsam betraten sie den kleinen Raum.
Tia hob den Blick und sah fragend zwischen Baran und Leon hin und her. „Was ist los?"
Der Hauptmann zuckte leicht die Schultern. „Leon ist verärgert."
Der Genannte brummte unwillig. „Ich wollte meinen Vater dazu bringen, dir ein Zimmer außerhalb des Kerkers zu geben."
Die Wandlerin sah den Vampir verblüfft an, musste dann jedoch lachen.
„Lass mich raten: Er war dagegen."
„Ja." Leon knurrte gereizt. Sofort wurde Tia wieder ernst.
„Wenn ich ehrlich bin, kann ich ihn verstehen, Leon. So sehr ich es hasse, hier eingesperrt zu sein. Ich an seiner Stelle würde mich auch nicht hinaus lassen."
Fragend legte der Vampir den Kopf schief. „Warum nicht?"
„Ganz einfach, Leon. Ich bin ein Werwolf und das hier ist eine Burg voller Vampire, die mich gegen meinen Willen festhalten. Es führt kein Weg daran vorbei, mich weiterhin einzusperren. Erst recht mit dem nahenden Vollmond. Und so sehr es mich vor der anderen Zelle graut: Es ist für alle das Beste, wenn ich die Nacht dort verbringe."Nachdenklich und inzwischen deutlich ruhiger musterte Leon das Mädchen.
„Ich wollte es doch nur angenehmer für dich machen, Tia."
Die Wandlerin lächelte schwach. „Das weiß ich. Und ich danke dir dafür. Aber es geht nun mal nicht anders."
Sehnsüchtig wanderte Tias Blick aus dem Fenster. Die Sonne näherte sich erschreckend schnell den Baumwipfeln. Sie trat an das Gitter heran und winkte ihren Freunden, die vom Waldrand aus zu ihr sahen.
Seit den Morgenstunden hatte sie versucht, ihnen durch Zeichen verständlich zu machen, dass sie die Nacht der Wandlung in einer anderen Zelle verbringen würde – und wer weiß, wie viele Nächte danach ebenfalls.
Nun konnte sie nur hoffen, dass Giso ihre Gesten richtig verstanden hatte.
Wehmütig drehte sie sich zurück zu den Vampiren und sah Baran fragend an. Dieser nickte nur. „Ja, Tia. Es ist soweit. Die Dämmerung wird gleich einsetzen und König Simon hat befohlen, dass du dann bereits in der Sicherheitszelle bist."
Leon trat auf Tia zu und zog sie in seine Arme. „Ich werde in deiner Nähe bleiben, Tia", versprach er. „Ich werde die ganze Nacht vor der Zelle sein. Ich weiß, du wirst es schaffen."
Die Wandlerin lächelte matt. „Danke, Leon. Das ist sehr nett von dir."
Dann wandte sie sich an Baran. „Ich bin soweit."Ohne Fesseln führte der Hauptmann Tia aus ihrer Zelle hinaus und wies auf die Treppe. „Wir müssen ganz nach unten."
Das Mädchen schluckte. Ihre Hand griff fahrig nach ihrem Anhänger und umklammerte diesen. Dann begann sie den Abstieg in die unterste Ebene.
Schließlich blieb sie am letzten Treppenabsatz stehen. Nur noch wenige Fackeln beleuchteten den Gang.
Direkt vor sich, genau gegenüber der Treppe, am Ende des Ganges, konnte sie eine große Metalltür in dem Dämmerlicht erkennen.
Baran übernahm die Führung und öffnete die schwere Silbertür.
Tia zögerte, als sie den Raum dahinter sah. Die Zelle war lediglich eine in den Fels geschlagene Höhle. Kein Lichtschacht erhellte den kargen Raum, in dem sich nichts außer einem Haufen frisches Stroh befand.
Baran lächelte aufmunternd. „Ich konnte König Simon immerhin überzeugen, dir etwas Stroh zuzugestehen. Und ich kann dir noch etwas Wasser bringen."
„Danke, Baran." Tia straffte sich und betrat ihr Gefängnis.
Leon ließ sich auf einen Hocker sinken, der direkt vor der Tür am Gang stand. „Ich werde die ganze Nacht hierbleiben. Wenn du etwas brauchst, rufe einfach. Ich werde dich hören."
Ein weiteres Mal schluckte die junge Frau. „Jetzt macht es mir nicht schwerer als nötig und schließt diese verdammte Tür", presste sie hervor und drehte sich um.
* * *
Kaum, dass der Morgen graute, kam Baran in Begleitung von Kiran und Levin in den Kerker herunter. Die zwei Wachen hielten mehrere Silberreifen in den Händen.
Sofort sprang Leon auf. „Ist das wirklich notwendig?"
Der Hauptmann seufzte. „Vorerst ja, Leon. Das weißt du. Und du kennst auch die Alternative. Ist es dir lieber, wenn Tia hier unten in der Zelle bleibt?"
„Auf keinen Fall." Leon knurrte gereizt.
„Wie geht es ihr überhaupt? Hat sie die Nacht gut überstanden?", wandte sich Baran versöhnlich an seinen Freund.
Der andere Vampir zuckte hilflos die Schultern. „Ich weiß nicht, wie so was normalerweise abläuft, Baran. Wir wissen so wenig über die Werwölfe ... Wann immer ich Tia gefragt habe, wie es ihr geht, hat sie gemeint, es sei alles in Ordnung. Aber seit einer Stunde antwortet sie nicht mehr. Ich glaube, sie schläft."
Baran neigte nachdenklich den Kopf. „Gut möglich. Ich könnte mir vorstellen, dass so eine Wandlung recht anstrengend ist. Aber lass uns doch einfach nachsehen."Der Baran nahm eine der Fackeln aus ihrer Halterung, trat auf die Tür zu und schob den gut geölten Riegel der Sichtklappe zurück. Noch bevor er die Klappe öffnen konnte, drängte Leon ihn zur Seite.
Kaum, dass er einen Blick in den Kerker geworfen hatte, entspannten sich seine Gesichtszüge.
„Sie ist wunderschön."
Baran schüttelte amüsiert den Kopf. „Gibs zu, sie hat dir schon immer gefallen."
„Ja. Das mag stimmen. Aber als Wolf ist sie fast noch schöner."
Neugierig schob der Hauptmann sich vor seinen Freund, hob die Fackel etwas höher und warf nun selber einen Blick in die Zelle.
„Du hast recht, Leon", bestätigte er gleich darauf. „Ich habe noch nie einen Wolf gesehen, der so weiß war, wie Tia. Sie sieht fast so aus wie die Mondgöttin in dem Märchen. Meinst du ...?"
Fragend wandte Baran den Kopf.
Leon zuckte hilflos die Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Göttin sich bei uns einsperren lassen würde. Außerdem sind die Märchen schon Jahrhunderte alt. Und Tia ist gerade mal 16."
Der Vampir stockte, begann dann herzhaft zu fluchen.
„Was ist los, Leon?" Der Hauptmann sah seinen Freund irritiert an.
„Sie ist 16, Baran. Tia hat heute Geburtstag. Und ich habe nicht einmal ein Geschenk für sie."
„Oh."
Nachdenklich musterte Baran die Wölfin.
„Wie wäre es ...", setzte er an. „Wir haben in letzter Zeit so viele Geschichten und Legenden über die Werwölfe gelesen. Schenke Tia doch ein Buch mit UNSEREN Märchen."
Leon strahlte. „Eine gute Idee. Danke, mein Freund."
DU LIEST GERADE
Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die Geisel
VampirosDie Vampire haben die alte Schriftrolle gedeutet. Es ist ihnen gelungen, die junge Wandlerin Tia zu entführen und sicher im Kerker wegzusperren. Dort soll das Mädchen künftig ihr Dasein fristen. Doch ihr Rudel wird alles daran setzen, Tia zu befreie...