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Der große Platz vor dem Rudelhaus war mit Fackeln hell beleuchtet.
Alle hatten sich bereits eingefunden. Selbst die Jüngsten spielten zu den Füßen ihrer Mütter.
Erwartungsvoll sahen sie zum Rudelhaus und warteten auf Samuel.
Die Männer und Frauen wurden schon unruhig, als in ihrem Rücken ein Räuspern erklang.
Ruckartig drehten sich alle um.
Vor seinem Haus stand der Alpha, frisch gewaschen und rasiert. Sofort bildeten alle eine Schneise. Samuel trat hindurch und stellte sich auf eine Kiste, damit jeder ihn sehen konnte.
Stille breitete sich aus. Selbst die Welpen unterbrachen ihr Spiel und blickten neugierig nach vorne.
„Wir haben uns heute hier versammelt, damit alle die Neuigkeiten erfahren können."
Lächelnd blickte er zu den Kindern, die sich nach vorne, in die erste Reihe, gedrängt hatten.
„Und mit alle meine ich wirklich alle. Auch die Kinder. Denn auch sie vermissen mit Tia ein Rudelmitglied."
Er wartete kurz, bis das aufgeregte Gemurmel sich gelegt hatte.
„Bevor ihr jetzt irgendwelche Spekulationen anstellt: Tia ist nach wie vor eine Gefangene der Vampire. Dennoch habe ich am Nachmittag gute Nachrichten erhalten. Einer unserer Spähposten an der Burg konnte Tia heute sehen. Sie befindet sich – leider unerreichbar für uns – in einer Zelle mit Blick auf den Wald. Allem Anschein nach scheint es ihr den Umständen entsprechend gut zu gehen. Sie ist müde und erschöpft, aber sonst wohlauf. Es scheint fast so, als ob die Blutsauger wollen, dass wir Tia sehen. Wahrscheinlich denken sie, dass wir unsere Kampfhandlungen einstellen, wenn wir sie sehen. Aber das werden wir nicht tun. Im Gegenteil. Wir werden unsere Bemühungen noch verstärken. Vor wenigen Minuten habe ich außerdem erfahren, dass es Giso gelungen ist, den ersten, vorsichtigen Kontakt zu meiner Tochter aufzunehmen. Tia hat auf sein Rufen reagiert und ihm zumindest kurz zugewinkt. Dann scheint aber einer ihrer Bewacher in die Zelle gekommen zu sein. Ich bin dennoch positiv gestimmt, dass wir den Kontakt weiter ausbauen können."
Lauter Jubel erklang von allen.
Samuel lächelte sacht. „Gemeinsam werden wir es schaffen, Tia zu befreien. Dessen bin ich mir sicher."
Er nickte den Rudelmitgliedern zu und stieg von der Kiste.
Stattdessen nahm Valentin seinen Platz ein. „Wir werden so weitermachen wie bisher. Aber wir werden unsere Belagerung ausbauen und die Vampire von jeglichem Nachschub abschneiden. So lange, bis sie Tia freiwillig ziehen lassen."
Der Beta blickte in die Gesichter der Männer und Frauen. „Mehr gibt es für heute nicht zu sagen. Sobald wir etwas erfahren, werden wir euch natürlich informieren."
* * *
Langsam schlug Tia die Augen auf. Die Sonne schien hell in ihr Zimmer. Das Mädchen seufzte. Wie sehr hatte sie es vermisst, von der Sonne geweckt zu werden.
Mit einem schwachen Lächeln setzte sie sich auf. Tia zuckte leicht zusammen, als sie sich unbewusst auf die verletzte Hand abstützte, doch sie schmerzte lange nicht so sehr wie am Vortag.
Vorsichtig bewegte sie die Finger und nickte zufrieden. Ihre Selbstheilungskräfte hatten bereits eingesetzt.
Heute Abend, spätestens morgen, würde die Hand wieder verheilt sein.
Tia lauschte auf den Gang hinaus, doch nichts war zu hören. Zeit also, um einen ungestörten Blick aus dem Fenster zu werfen.
Leise schlich sie an das Gitter und suchte den Waldrand ab. Sie wollte sich gerade wieder enttäuscht abwenden, als sie eine Bewegung wahrnahm.
Giso trat in seiner menschlichen Gestalt zwischen den Bäumen hervor. Mit einem breiten Grinsen sah er zu Tia hinauf und hob grüßend die Hand.
Mit einem Lächeln erwiderte die Wandlerin den Gruß.
Wachsam sah Giso sich um, bevor er einen weiteren Schritt nach vorne machte.
Erneut hob er die Hand und legte fragend den Kopf schief. Sein Daumen und sein Zeigefinger bildeten einen Ring.
Tia grinste leicht, dann nickte sie und hob zur Bekräftigung den Daumen.
Im nächsten Moment verharrte sie und wies leicht hinter sich. Giso nickte. Noch bevor die Tür in Tias Rücken sich öffnete, war er wieder im Wald verschwunden.
Tia drehte sich zu Baran um.
„Guten Morgen, Tia. Wie geht es der Hand?" Der Vampir nickte ihr freundlich zu und schloss die Tür hinter sich.
„Besser, danke."
Der Hauptmann trat näher auf Tia zu. „Darf ich sie mir ansehen? Wir sollten auch noch mal die Salbe auftragen."
Die junge Wandlerin zögerte, nickte dann aber.
Baran schmunzelte. „Leon wird später bestimmt auch noch nach dir sehen, aber gerade hat er zu tun."
Verlegen senkte Tia den Blick, was Baran nur ein leises Lachen entlockte.
„Tia. Das braucht dir nicht unangenehm sein. Man sieht einfach, dass euch beide irgendetwas verbindet."
Einladend wies Baran auf den Stuhl. „Lass mich deine Hand versorgen. Nuri wird bestimmt gleich mit dem Frühstück da sein."
Kurz darauf verschloss der Hauptmann den Salbentiegel. „Die Hand sieht wirklich gut aus. Erstaunlich, wie schnell sie heilt."
Tia lächelte schief. „Werwölfe heilen schneller als Menschen."
Baran nickte. „Sieht fast so aus."
Auf einmal wandten beide den Kopf in Richtung Tür. „Ah. Du hast Nuri also auch gehört."
Der Hauptmann stand auf und trat auf den Gang.

Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die GeiselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt