König Simon lehnte sich nachdenklich zurück.
„Ein sehr interessantes Märchen, Nuri."
Das Mädchen verneigte sich verlegen. „Es ist mein Lieblingsmärchen, Hoheit."
Der Vampir schmunzelte. „Das kann ich gut verstehen. Immerhin finden zumindest Artaios und Annea ihren Frieden." Simon seufzte leicht.
„Frieden... es wird Zeit, dass die Prophezeiung sich endlich bewahrheitet."
Leon trat einen Schritt nach vorne. „Darüber wollte ich später ohnehin noch mit dir sprechen, Vater. Aber jetzt geht es erst einmal um Tia und das Wolfswurz."
„Richtig. Nuris Geschichte mag ein Märchen sein, doch in jeder Geschichte steckt für gewöhnlich ein Funken Wahrheit. Wir sollten dem also nachgehen."
Sein Blick wanderte zu Nuri, während er sich wieder aufrichtete.
„Nuri. Lauf in die Bibliothek und hol das Märchenbuch, in dem die Legende steht." Er verharrte einen Moment. „Oder noch besser: Schau, ob du noch zwei oder drei weitere Bücher findest, in denen die Erzählung ebenfalls vorkommt. Ich denke, du kennst dich in der Bibliothek bestens aus. Dafür dürfte mein Sohn inzwischen gesorgt haben", fügte er mit einem Grinsen hinzu.
Nuri errötete leicht. „Sehr gerne, Hoheit", erwiderte sie dann mit einer Verneigung und verließ eilig den Besprechungsraum.Simon wandte den Blick seinem Sohn zu.
„Bis Nuri zurück ist ... Was wolltest du mit mir besprechen?"
Der Prinz strich sich nachdenklich durch die Haare.
„Mir geht der Text der Prophezeiung nicht mehr aus dem Kopf. Sie wirkt so unklar, so unvollständig. Ich frage mich die ganze Zeit, ob wir die Weissagung nicht doch falsch gedeutet haben."
Simon brummte unzufrieden. „Das Werwolfmädchen hat dich ganz schön um den Finger gewickelt. Du warst doch bisher überzeugt von unserer Auslegung?! Woher also der plötzliche Sinneswandel?"
Leon verzog leicht das Gesicht.
„Ich mag mit Tia gesprochen haben, Vater. Ja. Aber das ist nicht der Grund, warum ich zweifle. Ich frage mich, wie es je Frieden geben soll, wenn wir den Werwölfen ein Rudelmitglied wegnehmen? Was würdest du tun, wenn sie mich entführen."
Simons Augen verengten sich zu Schlitzen. „Das wird nicht geschehen. Und wenn, würde ich natürlich alle Hebel in Bewegung setzen, um dich zu befreien."
Leon nickte nur. „Siehst du, Vater? Die Wölfe tun das Gleiche. Wie soll es da zu Frieden kommen?"
Der König stieß ein unwilliges Knurren aus. „Das ist trotzdem etwas anderes."
Betrübt schüttelte Leon den Kopf. „Das Einzige, was wir so erreichen, ist eine Unterwerfung. Aber Großvater Julius sprach eindeutig von Frieden. Deshalb vermute ich ja, ob die Prophezeiung unvollständig ist...".
Simon seufzte. „Ich kann dir das Original gerne zeigen, mein Sohn. Aber es steht nichts weiter drauf. Nur die Zeilen, die du kennst."
„Irgendetwas stimmt trotzdem nicht. Das sagt mir mein Gefühl. Und du weißt, dass mich meine Intuition bisher selten getäuscht hat."Die zwei Vampire verstummten, als die Tür geöffnet wurde und Nuri – beladen mit mehreren schweren Büchern – den Raum betrat. Der Bücherturm schwankte gefährlich, als sie auf die große Tafel zutrat.
Kurz bevor der Turm kippen konnte und kurz bevor Leon und Baran gleichzeitig aufspringen wollten, um ebendies zu verhindern, legte Nuri die Bücher auf dem Tisch ab und seufzte erleichtert.
Simon hob die Augenbraue. „Ich sprach von zwei oder drei Büchern, Nuri."
Die junge Dienerin lächelte verlegen. „Ich habe mich daran erinnert, dass in den anderen Büchern ähnliche Märchen stehen, also Geschichten, in denen es auch um Wolfswurz geht. Ich dachte, es wäre vielleicht hilfreich?"
Die drei Vampire sahen Nuri verblüfft an. „Du bist wirklich ein kluges Mädchen, Nuri." Simon deutete eine Verneigung an. „Ich denke, es ist an der Zeit, dir einen Hauslehrer an die Seite zu stellen."
Unsicher trat Nuri von einem Bein auf das andere. „Aber dann habe ich nicht mehr ausreichend Zeit für meine Aufgaben, Hoheit."
Baran hustete, im Versuch ein Lachen zu unterdrücken. Leon hingegen grinste unverhohlen. Simon selbst lachte amüsiert auf. „Du sprichst mich mit Hoheit an und vergisst gleichzeitig, wer ich bin, Nuri. Wenn ich entscheide, einen Teil deiner Arbeitszeit darauf zu verwenden, dass du zu einer gebildeten, jungen Frau heranwächst, wird deine Zeit für deine übrigen Pflichten reichen."
Nuris Augen weiteten sich vor Erstaunen. Dann verneigte sie sich tief und respektvoll. „Ich danke Euch, König Simon."
Simon schmunzelte. „Dann zeig doch mal, was du mitgebracht hast."
Nuri schob die Bücher auseinander. „Ich habe die entsprechenden Seiten mit Kordeln markiert, Hoheit."
Der König nickte zufrieden.
„Hol doch dort hinten aus dem Schrank bitte Papier und ein paar Stifte Nuri."
Lächelnd beobachtete er, wie seine jüngste Dienerin seinem Auftrag nachkam und auch sogleich Papier und Stifte an die Vampire verteilte.
Nachdenklich blickte Simon zu dem Mädchen. „Wie gut steht es um deine Schreibfähigkeiten?"
Nuri senkte verlegen den Kopf. „Nicht sehr gut, Hoheit. Es gelingt mir zwar inzwischen, Texte einigermaßen fehlerfrei abzuschreiben, aber mehr auch nicht."
Simon zuckte die Schultern. „Für das, was mir vorschwebt, sollte das mehr als ausreichend sein", erwiderte er.
„Jeder von euch nimmt sich bitte ein Buch zur Hand und liest die Geschichten durch, die Nuri bereits für uns markiert hat. Bitte notiert alle Informationen über Werwölfe, die darin enthalten sind – egal wie seltsam sie auch erscheinen mögen."
Motiviert griffen Baran und Leon nach einem der Bücher, während Nuri dezent einen Schritt zurück trat.
Simon hob leicht die Augenbraue. „Der Auftrag ging auch an dich, Nuri."
„Oh." Die junge Dienerin errötete leicht. Dann begann sie zu strahlen, holte sich einen weiteren Stift aus dem Schrank und setzte sich zu den Vampiren an den Tisch.Längst hatten Diener Erfrischungen gebracht und Lampen entzündet, doch noch immer saßen die Vampire und Nuri über die Bücher gebeugt. Immer wieder fuhr sich das Mädchen mit der Zunge über die Lippen, während sie einzelne Textpassagen abschrieb.
Schließlich seufzte sie erleichtert auf und klappte das Buch zu. „Das war die letzte Geschichte." Sie verzog leicht das Gesicht und schüttelte die schmerzende Hand aus.
Simon nickte ihr zu und streckte seine Hand nach dem Zettel aus.
Stirnrunzelnd überflog er die von Nuri geschriebenen Zeilen. „Gut gemacht Nuri." Er lächelte ihr anerkennend zu.
„Deine Schreibfähigkeiten werden wir aber auf jeden Fall ausbauen."
Der Vampir ließ sich die anderen Zettel nun ebenfalls reichen, legte sie nebeneinander und verglich sie.
„Wollen wir doch mal sehen, was wir alles haben ...", setzte er an. Gleich darauf seufzte er.
„So viele unterschiedliche Punkte gibt es leider nicht ..."
Rasch fuhr er mit dem Stift über die einzelnen Bögen und setzte Markierungen. Erst dann blickte er auf.
„1. Werwölfe, die an einem blauen Mond geboren sind, sind besonders stark.
2. Werwölfe, die sich zusätzlich an einem solchen Mond das erste Mal wandeln, sind noch stärker.
3. Betreffende Wölfe sind früh entwickelt.
4. Sie beginnen sich bereits einen Neumond zuvor sich in Teilen zu wandeln.
5. Wird das verhindert, werden sie krank und können sterben.
6. Wolfswurz löst bei ihnen Krämpfe und Schmerzen aus.
7. Es gibt einen Trank, der sie stärkt" zählte Simon auf.
„Habe ich etwas vergessen?"
Baran und Nuri schüttelte den Kopf.
Fragend sah der König zu seinem Sohn. „Was ist mit dir, Leon?"
Der Prinz zögerte. Verlegen senkte er den Kopf. „Vergessen nicht, Vater. Nur eine Ergänzung", druckste er herum.
Fragend legte Simon den Kopf schief. „Zum letzten Punkt. Ich weiß, worum es sich bei diesem Trank handelt."
Simon knurrte gereizt auf. „Rede endlich Klartext, Sohn. Was ist es?"
Leon zog etwas den Kopf ein. „Vampirblut. Mein Blut."
Der Kopf seines Vaters ruckte nach oben. Seine Augen blitzten rot auf.
„Baran und ich wussten nicht, was wir noch tun sollen. Tias Herz hat immer wieder aufgehört zu schlagen. Da habe ich mich an die besonderen Fähigkeiten unseres Blutes erinnert. Es gab nichts mehr zu verlieren. Also habe ich es einfach ausprobiert."
Simon schüttelte stöhnend den Kopf. „Du und deine verrückten Ideen. Aber gut. Dann ist diese Frage zumindest beantwortet. Ich denke, mehr können wir für heute nicht mehr tun. Es ist bereits spät."
Er zögerte. „Leon. Schau bitte noch mal nach Tia. Wenn nötig, gib ihr noch etwas von deinem Blut. Es wird Zeit, dass sich das Mädchen wieder am Fenster zeigt. Die Werwölfe haben bereits begonnen, die Burg aktiv anzugreifen."
Sein Blick wanderte weiter zu Nuri. „Bring du ihr bitte noch ein Abendessen. Da kein Zweifel mehr besteht, dass Wolfswurz tödlich für sie ist, sollte sie jetzt wieder zu Kräften kommen. Baran: Ihr werdet sie weiterhin im Auge behalten."
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Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die Geisel
VampirosDie Vampire haben die alte Schriftrolle gedeutet. Es ist ihnen gelungen, die junge Wandlerin Tia zu entführen und sicher im Kerker wegzusperren. Dort soll das Mädchen künftig ihr Dasein fristen. Doch ihr Rudel wird alles daran setzen, Tia zu befreie...