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Während Samuel, Giso und Joran noch auf der Lichtung blieben, eilten die Krieger – noch immer in ihrer Wolfsform – in den Wald hinein.
Es dauerte nur wenige Augenblicke und Samuel gab Entwarnung.
„Es ist kein Blutsauger in der Nähe. Wir können also los."
Vor der Gedenkstätte angekommen, ging Samuel auf die Knie und untersuchte den aufgewühlten Boden.
Kurz darauf sah er besorgt zu den anderen.
„Hier hat auf jeden Fall ein Kampf stattgefunden."
Sofort waren Giso, Joran und die Späher an seiner Seite und begannen, den Grund nach weiteren Spuren abzusuchen.
Bereits nach den ersten Schritten bückte sich Joran und hob etwas vom Waldboden auf.
„Ich habe etwas gefunden, Alpha."
Joran schluckte schwer und hielt das Armband hoch. „Das habe ich Tia gestern erst geschenkt. Sie hätte es nie freiwillig abgelegt. Da bin ich mir sicher."
Giso trat neben ihn, um das Band genauer zu betrachten. „Es ist gerissen, Al..."
Er stoppte mitten im Wort, als ihm ein unangenehmer, beißender Geruch in die Nase stieg. Gisos Miene schien zu versteinern und er knurrte. „...Wolfswurz. Diese elenden Bastarde."
Ohne sich zu wandeln, ging der Krieger auf die Knie und folgte der Duftspur. Diese war so schon intensiv genug, auch ohne dass er sich in seiner Wolfsform befand.
Mit spitzen Fingern hielt er schließlich die Phiole hoch, die Baran hatte fallen lassen. Langsam drehte er sie um, ließ einen Tropfen auf seinen Finger fallen und probierte ihn vorsichtig. Sofort verzog er angewidert das Gesicht.
„Hier ist es. In dieser Flasche war Wolfswurz. Und sehr starkes noch dazu."
Inzwischen hatten sich alle um Giso versammelt. Es war ohnehin sicher, dass kein Vampir mehr in der Nähe war. Ein Schutz durch die Krieger war somit unnötig.
Entsetzte Blicke lagen auf der kleinen Phiole.
„Tias Verschwinden war kein Zufall", knurrte einer. „Ich habe nur keine Idee, wie sie Tia dazu gebracht haben, hierher zu kommen."
„Immerhin scheint sie noch zu leben. Sonst hätten sie ihr kein Wolfswurz gegeben und wir hätten Blutspuren gefunden."
Samuel blickte bleich auf die Phiole. Mit zitternden Fingern nahm er das Fläschchen von Giso entgegen und drehte es leicht im Licht. „Tia mag noch leben. Aber ihr wisst alle, dass sich meine Tochter in der Phase der Vorbereitung befindet. Wenn die Vampire ihr weiterhin Wolfswurz geben, wird das nicht gut für sie ausgehen. Und das werden sie. Denn so, wie ich Tia kenne, wird sie ihnen sonst keine ruhige Minute lassen."
Betreten senkten die Männer den Kopf.
Auf einmal stutzte einer der Späher.
„Auch wenn das nichts ändert. Tia hat es ihren Angreifern bereits jetzt nicht leicht gemacht. Sie scheint sich mit aller Kraft gewehrt zu haben."
Als er die fragenden Blicke der anderen sah, deutete er auf den Boden, wo kaum sichtbar ein paar Blutstropfen zu sehen waren.
„Das ist eindeutig Vampirblut. Dass Tia es geschafft hat, einen ihrer Angreifer zu verletzen, zeigt uns nur, wie stark sie ist. Sie wird es schaffen, Alpha. Da bin ich mir sicher. Sie ist eine Kämpfernatur. Das war sie schon immer."
Samuel nickte langsam. „Ja. Meine Tia ist stark. Sie ist eine Kämpferin."

Ein leichter Wind kam auf und Samuel hob mit gerunzelter Stirn den Kopf. Seine Nasenflügel blähten sich, als ein fremder und dennoch nicht gänzlich unbekannter Geruch in seine Nase stieg.
Dann sank er auf die Knie und suchte erneut den Boden ab. Schließlich stoppte er und sah zu den anderen.
„Ich wusste, dass ich diesen Geruch schon einmal gerochen habe. Einer von Tias Angreifern war der Vampir, mit dem ich nach der letzten Schlacht den kurzen Waffenstillstand ausgehandelt hatte. Er schien mir ein besonnener und vernünftiger Mann zu sein, der zudem auch noch Ehrgefühl hat. Sofern man bei einem Blutsauger davon überhaupt sprechen kann. Doch das lässt mich für Tia hoffen."
Giso nickte zustimmend. „Dann sind wir uns also einig, dass Tia auf die Vampirburg gebracht wurde?"
Die anderen nickten bestätigend.
Samuel straffte sich und ließ die Phiole in seine Tasche gleiten.
„In die Burg können wir nicht eindringen.
Für den Moment bleibt uns nichts anderes übrig, als zurückzukehren und das restliche Rudel zu informieren. Und dann können wir beginnen, Pläne zu schmieden, wie wir meine Tochter befreien."

Den Rückweg traten die Wölfe über den kürzeren Weg durch die Tunnel an.
Als Samuel als erster das Tunnelsystem verließ, hatte sich bereits das ganze Rudel auf der Lichtung versammelt.
Sofort bestürmten einige der jüngeren Krieger den Alpha.
„Was ist geschehen, Alpha? Wo ist Tia?"
Noch immer blass trat Samuel auf die Wiese. Hoch aufgerichtet stand er vor seinem Rudel, doch auch diese Haltung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, welchen inneren Kampf, welche inneren Qualen, er ausstand.
Valentin trat neben ihn und legte ihm bestärkend die Hand auf die Schulter. Für einen Moment schienen sie stumm zu kommunizieren, dann wandte sich der Beta an die Jungwölfe.
„Hört auf, Samuel derart mit Fragen zu bestürmen und geduldet Euch. Er wird euch auch so alles berichten, was ihr wissen müsst."
Betreten und mit gesenktem Kopf traten die jungen Krieger zurück zu den anderen. Lediglich Noah blieb nahe dem Alpha stehen und sah ihn hoffnungsvoll an.
Samuel atmete tief durch. Dann richtete er den Blick auf sein Rudel.
Das Rudel brauchte einen starken Anführer. Vor allem jetzt. Seine eigenen Sorgen und Probleme mussten vorerst warten.
„Wie ihr alle inzwischen wisst, ist Tia seit heute Nacht verschwunden. Joran hat mich in den Morgenstunden informiert – sobald er ihr Fehlen bemerkt hatte. So konnten wir ihren Spuren noch gut folgen. Alles deutet darauf hin, dass sie das Rudelhaus und das Dorf freiwillig verlassen hat. Warum sie aber mitten in der Nacht aufgebrochen ist und nicht einmal Joran Bescheid gesagt hat, wissen wir nicht."
Joran trat näher an Samuel heran und berührte ihn leicht am Arm.
„Ja Joran? Ist dir noch etwas eingefallen?"
Der junge Mann schluckte. „Ihr Bett war ziemlich zerwühlt. Ganz so, als ob sie schlecht geschlafen hätte. Oder auch schlecht geträumt."
Samuel blickte nachdenklich auf Joran. „Ein schlechter Traum. Das könnte in der Tat erklären, warum sie so überstürzt aufgebrochen ist, dass sie nicht einmal dich geweckt hat."
Für einen Moment verlor Samuel seine Fassade als starker Alpha, stützte den Kopf in die Hand und rieb sich verzweifelt über die Stirn.
„Wann immer Tia Sorgen oder Probleme hatte, ist sie zur Gedenkstätte gegangen und hat am Grab ihrer Mutter Trost gesucht. Es ist also gut möglich, dass sie auch jetzt dorthin ist, um wieder zur Ruhe zu kommen. Zumal wir vor dem Friedhof Kampfspuren gefunden haben. So leid es mir tut, das zu sagen: Es passt zu Tia, so blindlings loszulaufen und alles andere zu vergessen."

Die ganze Zeit hatte Noah schweigend und geduldig zugehört. Doch nun machte er einen Schritt nach vorne.
„Was für Kampfspuren habt ihr gefunden, Alpha? Wurde Tia verletzt?"
Samuel lächelte schwach und nickte Noah dankbar zu. Immerhin zwang diese Frage ihn, wieder zu seiner Rolle als Anführer zurückzukehren.
„So wie es aussieht, wurde Tia vor unserer Gedenkstätte von mehreren Vampiren angegriffen. Ob vor oder nach dem Besuch der Gräber wissen wir nicht – und es dürfte auch nicht wirklich relevant sein. Sie hat sich mit aller Kraft gewehrt und konnte zumindest einen der Blutsauger so verletzen, dass er geblutet hat. Letztendlich wurde sie aber wohl überwältigt und mit starkem Wolfswurz ruhig gestellt. Danach verliert sich ihre Spur. Vermutlich wurde sie weggetragen. Wir sind uns einig, dass man sie auf die Burg der Vampire gebracht hat, um sie dort gefangen zu halten. Was die Blutsauger sich davon erhoffen weiß ich nicht."
Ein Knurren lief durch die Reihen der Wandler, als Samuel diese Information weitergab, doch schnell schwiegen die Wölfe wieder, als der Alpha die Hand hob.
„Das einzig Gute an der Situation ist: Alles scheint darauf hinzudeuten, dass sie Tia lebend brauchen. Es ist durchaus möglich, dass sie versuchen werden uns zu kontaktieren und Forderungen stellen. Allerdings befindet sich Tia seit dieser Nacht in der Phase der Vorbereitung. Aufgrund der Umstände ihrer besonderen Geburt – die ihr alle kennt – fällt diese auch besonders stark aus. Es bleibt zu hoffen, dass die Vampire ihr nicht weiterhin Wolfswurz geben."
Kurz wechselte Valentin mit Samuel einen Blick. Als dieser im zunickte, trat er einen Schritt nach vorne.
„Soweit zu den Dingen, die wir wissen. Jetzt geht es darum, einen Plan zu schmieden, wie wir Tia befreien können."
Noch bevor Unruhe aufkommen konnten, hob Valentin die Hand.
„Doch hier ist nicht der Ort, Derartiges zu besprechen. Durch die besonderen Umstände haben Samuel und ich uns zu einem eher unkonventionellen Schritt entschieden. Alle wandelfähigen Wölfe finden sich bitte in einer Stunde im Versammlungssaal ein. Außerdem möchten wir alle Halbwüchsigen einladen, sich ebenfalls an den Diskussionen zu beteiligen und ihre Ideen einzubringen."
Trotz der ernsten Situation musste Samuel leise lachen, als er in die überraschten Gesichter der jüngeren Rudelmitglieder blickte. Bereits im nächsten Augenblick sah man ihm die Sorge um seine Tochter jedoch wieder deutlich an. Sein Gesicht war bleich und fahl und wirkte trotz der kurzen Zeit eingefallen.
„Es wird nicht leicht werden, Tia zu befreien. Es wird sogar fast unmöglich werden. Daher kann es nur hilfreich sein, so viele Ideen wie möglich zu hören."


Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die GeiselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt