Die schwachen Strahlen der Morgensonne fielen sanft durch das geöffnete Fenster und auf das leere, zerwühlte Bett von Tia.
Draußen zwitscherten die ersten Vögel ihr Morgenlied. Über die Wiese waberte der Morgennebel. Alles war ruhig und friedlich. Nur aus dem Schlafraum der Halbstarken hörte man hier und da ein leises Schnarchen oder auch mal ein Rascheln, wenn sich einer der Jugendlichen im Schlaf umdrehte.Langsam öffnete Joran die Augen und streckte sich. Er fröstelte. Sein Blick wanderte zum geöffneten Fenster.
Er brauchte einen Moment um zu realisieren, wo er war. Dann fiel ihm alles wieder ein: Gestern war der große Umzug gewesen. Seit gestern befanden sie sich in ihrem neuen Dorf.
Aber warum stand das Fenster offen?
Die Nächte waren bereits empfindlich kalt. Zu kalt für die noch nicht wandelfähigen Halbstarken, um bei geöffnetem Fenster zu schlafen.
Joran runzelte die Stirn und sah sich um.
Keinen Wimpernschlag später saß er hellwach senkrecht im Bett.
Der Platz neben ihm war leer, das Laken zerwühlt.
Joran runzelte die Stirn. Wo steckte Tia bloß?
Dann zuckte er jedoch die Schultern. Wahrscheinlich war sie nur einem dringenden Bedürfnis nachgegangen.
Langsam legte er sich wieder auf sein Lager, doch er konnte keine Ruhe finden.
Irgendetwas stimmte nicht.
Erneut setzte er sich auf und griff mit der Hand auf das Bett. Es war kalt und klamm.
Tia musste ihr Lager schon lange verlassen haben. Aber wo war sie hin? Bei einem nächtlichen Streifzug hätte seine Freundin ihn doch geweckt und mitgenommen?
Leise stand Joran auf und blickte aus dem Fenster, doch von Tia war keine Spur zu sehen. Dennoch war sich der Junge sicher, dass sie den Raum durch das Fenster verlassen hatte. Warum sonst sollte es offen stehen?
Ohne ein Geräusch zu machen, kletterte Joran auf den Fenstersims und sprang in das nasse Gras.
Erst jetzt sah er die Fußspuren, die sich – kaum noch sichtbar – über die Lichtung zogen und dann im Wald verschwanden.
Er machte einen Schritt, den Spuren nach.
Dann blieb er jedoch stehen und schüttelte den Kopf.
,Nein. Diesmal nicht', sprach er zu sich selbst. ,Dieses Mal werde ich vernünftig sein und den Alpha informieren.'
Frustriert runzelte er die Stirn, als ihm einfiel, dass er gar nicht wusste, wo die Schlafstätte des Alphas war.
Ruckartig wandte er sich um und suchte den Waldrand nach einer der Patrouillen ab.Im nächsten Moment stürmte er bereits los. Schlitternd kam er hinter den ersten Bäumen zum Stehen.
„Giso!", bestürmte er den hellbraunen Wolf, der ihn prüfend ansah. Als der Werwolf den drängenden, verzweifelten Blick des Jungen sah, stupste er ihn auffordernd mit der Schnauze an.
Joran raufte sich die Haare. „Giso! Du musst den Alpha informieren. Tia ist verschwunden."
Gisos Augen verdunkelten sich für einen Moment, dann knackste es, als er sich wandelte.
„Hast du ihm Bescheid gesagt?", bedrängte Joran ihn sofort.
Giso legte dem Jungen beruhigend die Hand auf die Schulter. „Er weiß Bescheid. Du beruhigst dich jetzt erst einmal und ich bringe dich zu Samuel. Er wartet auf dich in seinem Büro."
Joran nickte fahrig.
„Mach dir nicht zu viele Gedanken. Du kennst doch Tia. Wahrscheinlich hat sie nur mal wieder einen ihrer Streifzüge unternommen."
„Nein", widersprach er. „Dieses Mal ist es anders. Ich fühle es. Irgendetwas stimmt nicht."
Nachdenklich runzelte Giso die Stirn, dann wurde auch er ernst. „Du kennst Tia besser als jeder andere. Beeilen wir uns."Als Giso und Joran das Büro betraten, stand Samuel mit dem Rücken zu ihnen am Fenster und sah hinaus.
Langsam drehte er sich um. Seine Miene war sorgenvoll, die Stirn von kleinen Falten gefurcht.
„Ich habe alle Patrouillen kontaktiert. Niemand hat gesehen, wie Tia das Rudelhaus verlassen hat. Seid ihr euch sicher, dass sie sich nicht irgendwo im Gebäude versteckt hat?"
Kurz runzelte Joran nachdenklich die Stirn, dann schüttelte er vehement den Kopf.
„Nein, Alpha. Auch wenn wir das Haus nicht abgesucht haben, bin ich mir sicher, dass Tia nicht mehr hier ist.
Das Fenster stand offen und draußen im Gras habe ich die Reste ihrer Fußabdrücke gefunden."
Samuel sackte leicht in sich zusammen.
„Ich werde sogleich einen Suchtrupp zusammenstellen. Ich weiß, deine Schicht ist eigentlich zu Ende, Giso. Aber ich möchte dich bitten, noch das Gelände nach meiner Tochter abzusuchen."
Giso schüttelte verwundert den Kopf. „Natürlich, Alpha. Ich werde mich auch sonst an der Suche beteiligen."
Joran zögerte, machte dann aber einen Schritt nach vorne.
„Ich möchte auch helfen, Alpha."
Samuel sah den Jungen prüfend an.
„Ich verstehe deinen Wunsch, Joran. Aber wie stellst du dir das vor? Du kannst dich noch nicht wandeln."
„Aber ich kenne Tia. Ich weiß, wie sie denkt, ich kenne ihre Ideen..."
Samuel seufzte. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, Joran."
Als Joran enttäuscht den Kopf senkte, trat Giso neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Wenn du einverstanden bist, nehme ich ihn mit, Alpha. Vorausgesetzt natürlich, Jorans Eltern stimmen ebenfalls zu."
Samuel lachte trocken und freudlos auf.
„Danke, Giso. Das ist wirklich eine gute Idee. Zumindest weiß ich dann, wo der Junge ist. Ich bezweifle nämlich, dass Joran brav im Dorf bleibt. Vielmehr denke ich, dass er versuchen würde, Tia auf eigene Faust zu suchen. Hab ich nicht recht, Joran?"
Verlegen senkte Joran den Blick.
„Ja, du hast Recht, Alpha. Aber ich kann einfach nicht tatenlos zusehen."
Samuel nickte knapp, wandte sich dann wieder an Giso.
„Meine Erlaubnis habt ihr. Klär du mit Jorans Eltern, ob sie ebenfalls zustimmen und dann könnt ihr aufbrechen."Nachdem Giso über die Gedankenverbindung das Einverständnis von Jorans Eltern geholt hatte, nickte er dem Jungen zu.
„Zeig mir, wo du Tias Fußspuren gefunden hast."
Gemeinsam liefen sie zurück zum Rudelhaus. Joran hielt den Blick auf den Boden geheftet, doch er wurde immer frustrierter, als er die Spuren nicht mehr sehen konnte.
„Ich schwöre, dass auf dieser Strecke Abdrücke zu sehen waren, Giso. Ich habe sie mir nicht eingebildet."
Schließlich blieben sie unter dem Fenster stehen.
Erneut heftete Joran den Blick auf das nasse Gras, dann strahlte er.
„Hier, Giso, Schau!"
In der feuchten Wiese, dicht an der Hauswand, waren direkt nebeneinander zwei klare Fußabdrücke zu sehen.
Abschätzend ließ Giso den Blick hinauf zum Hochparterre und wieder zurück wandern.
„Die Größe stimmt in etwa. Tia scheint wirklich aus dem Fenster gesprungen zu sein. In welche Richtung sagtest du, haben die Spuren geführt?"
Joran deutete zum gegenüberliegenden Waldrand.
„Direkt dort entlang. Ich wollte ihnen folgen, aber dann dachte ich, es wäre besser, Hilfe zu holen."
„Das war eine weise Entscheidung. Es passt nicht zu Tia, ohne dich zu verschwinden. Oder hat sie noch mit dir gesprochen?"
„Nein. Deswegen mache ich mir doch solche Sorgen um sie. Meinst du, wir finden im Wald wieder Spuren von ihr?"
Giso grinste. „Lass mich zunächst etwas anderes versuchen."
Es knackte, als der Werwolf sich wandelte.
Die Nase dicht am Boden versuchte Giso, Tias Spur auszumachen. Dann jaulte er auf und rannte los. Joran hatte sichtlich Mühe, ihm zu folgen.
Erst ein paar Meter hinter der Waldgrenze blieb er stehen.
Begeistert deutete Joran auf die feuchte Erde, wo immer wieder klare Fußabdrücke zu sehen waren.
Rasch wandelte sich Giso zurück.
„Tia ist wirklich hier entlang gelaufen. Ich konnte ihre Spur ganz schwach riechen. Und wir haben Glück, dass wir erst seit gestern hier im Dorf sind. Dadurch gibt es im Wald noch nicht so viele Spuren."
Motiviert rannte Joran los. „Dann los. Lass uns keine Zeit verlieren."
Bereits nach wenigen Schritten packte Giso ihn am Kragen und stoppte ihn so.
„Immer langsam, Joran. Wir werden Tia bestimmt nicht blindlings nachrennen. Und wenn du dich nicht zurück hälst,, nehme ich mein Angebot zurück. Du wirst an meiner Seite bleiben und nicht voraus stürmen. Haben wir uns verstanden?"
Joran nickte unzufrieden.
„Aber wir müssen doch Tia finden!"
Giso ließ ein warnendes Knurren erklingen. „Das werden wir auch. Aber nicht, wenn wir am Ende blind in eine Falle laufen. Ich informiere den Alpha, dass wir Tias Spur haben und dann werden wir gemeinsam mit dem Suchtrupp der Spur folgen."
Widerwillig nickte Joran.Es dauerte nicht lange und Samuel trat mit einer Gruppe von gut zehn Kriegern neben Giso und Joran. Sie alle waren in ihrer Wolfsform. Dennoch konnte Joran jeden Einzelnen problemlos erkennen.
Für den Suchtrupp hatte Samuel sowohl ältere, erfahrene Werwölfe ausgewählt, als auch jüngere, kräftige Krieger. Auch seine besten Fährtenleser hatte er mitgenommen.
Für einen Moment herrschte Stille. Samuel schien sich stumm mit Giso abzustimmen.
Dann wandte er den Blick zu Joran, nickte ihm auffordernd zu und beugte sich nach unten.
Joran runzelte die Stirn. „Ich soll aufsteigen?"
Mit einem amüsierten Lachen klopfte Giso ihm auf den Rücken.
„Ja. Du sollst aufsteigen und dich gut festhalten. Wenn du selber läufst, bist du zu langsam und hältst uns nur auf."
Der Junge nickte skeptisch, hielt sich dann an Samuels Nackenfell fest und stieg auf seinen Rücken.
Kaum, dass er saß, stürmte Samuel bereits los. Schnell festigte Joran seinen Griff und beugte sich dichter über den Alphawolf.
Nach den ersten Metern teilte sich der Suchtrupp auf. Die Fährtenleser übernahmen die Führung, während die Krieger die Flanken sicherten. Samuel selbst blieb dicht hinter den Spurensuchern und verfolgte ebenfalls die Fußabdrücke seiner Tochter.Bereits eine halbe Stunde später kam die Gruppe wieder zum Stehen und Joran glitt von Samuels Rücken.
Kaum, dass seine Füße den Boden berührten, hatten sich die Wölfe bereits gewandelt.
„Tia ist in unser altes Dorf gegangen?", hakte er überrascht nach, jetzt, wo er mit den anderen wieder kommunizieren konnte.
Samuel nickte und nahm das Kleiderbündel entgegen, das einer der Krieger ihm reichte.
Jetzt war er froh, dass er die Kleiderdepots nicht hatte auflösen lassen.
„Die Spuren gehen noch weiter, aber ich denke nicht, dass wir sie jetzt noch brauchen werden. Ich glaube zu wissen, wo Tia hin ist. Auch wenn ich das Warum nicht so recht nachvollziehen kann."
Joran nickte. „Sie wollte bestimmt zum Grab ihrer Mutter."
„Ja. Das vermute ich auch. Aber erst gestern früh war ich noch zusammen mit ihr dort. Und sie ist noch eine ganze Weile alleine dort geblieben. Warum also sollte sie mitten in der Nacht dorthin gegangen sein?"
Joran kratzte sich nachdenklich am Kopf.
„Lasst uns doch erst einmal die Grabstätte untersuchen", schlug Giso vor. „Im besten Fall finden wir Tia dort und sie kann uns alles erklären."
„Du hast recht, Giso." Sein Blick wanderte zu den Kriegern. „Ihr sichert die Umgebung. Giso, Joran und ich werden gemeinsam mit den Spähern die Grabstätte aufsuchen."
DU LIEST GERADE
Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die Geisel
VampirgeschichtenDie Vampire haben die alte Schriftrolle gedeutet. Es ist ihnen gelungen, die junge Wandlerin Tia zu entführen und sicher im Kerker wegzusperren. Dort soll das Mädchen künftig ihr Dasein fristen. Doch ihr Rudel wird alles daran setzen, Tia zu befreie...