Eine Stunde später hatten sich alle in der großen Versammlungshalle eingefunden. Lediglich die Kinder spielten weiterhin draußen, geschützt von einigen wenigen Kriegern.
In Ermangelung von Tischen und Stühlen, die noch im ehemaligen Dorf waren, hatten sich die Wandler auf den Boden gesetzt.
Als langsam Ruhe einkehrte, betraten Samuel und Raphael den Saal. Sie stellten sich auf das Podest, damit jeder sie gut sehen konnte.
Erneut legte Valentin seinem Freund die Hand auf die Schulter und nickte ihm zu.
Dankbar trat Samuel einen Schritt zurück.
„Wir wollen nun gemeinsam planen, was wir unternehmen können. Gibt es irgendwelche Vorschläge?"
Ein junger Wolf, der sich erst vor wenigen Wochen gewandelt hatte, stand auf.
„Ich finde, wir sollten uns zusammen tun und die Burg stürmen. Neumond ist vorbei. Die Vampire werden wieder schwächer und wir dürfen es uns nicht gefallen lassen, dass sie einen der Unseren entführen und festhalten."
Sofort erfüllte Applaus die Halle, der jedoch vorwiegend von den Halbwüchsigen und Jungwölfen ausging.
Die älteren Wölfe hingegen schüttelten die Köpfe.
Schließlich erhob sich einer der Altwölfe schwerfällig. „Ihr seid jung, Zeron. Jung, ungestüm und voller Tatendrang. Wenn wir versuchen, die Vampirburg zu stürmen, rennen wir in unser Verderben. Natürlich müssen wir Tia befreien. Aber mit Bedacht."
Valentin nickte ihm zu. „Sorin hat recht. Jugendlicher Übermut wird uns nicht helfen. Das würde nur zu großen Verlusten führen ohne uns dabei Tia zurückbringen."
Die Halbstarken murrten unzufrieden.
Samuel trat wieder einen Schritt nach vorne. „Ihr seid mutig und wollt endlich kämpfen. Das kann ich verstehen. Euch wurde mit Tia eine Freundin genommen. Aber denkt auch an sie: Tia würde es bestimmt nicht wollen, dass ihr sinnlos euer Leben opfert. Richtet Eure Energie auf Pläne, die uns voranbringen."
Eine junge Wölfin drängte sich durch die Menge, bis sie direkt vor dem Podest stand.
„Und wenn wir einfach erst einmal die Burgumgebung auskundschaften?"
Valentin und Samuel nickten gleichzeitig. „Das klingt schon nach einem besseren Plan, Lyn. Aber wir müssen besonnen vorgehen. Es darf keine Alleingänge geben."
Schließlich stand Joran auf. „Können wir nicht das Rudel auf der anderen Seite des Waldes um Hilfe bitten? Vielleicht sind sie bereit, uns zu helfen, oder wissen wenigstens etwas, das uns weiterhelfen kann?"
Erstaunt legten die beiden Rudelführer den Kopf schief. „Das ist eine sehr gute Idee, Joran."
Mit einem Kopfschütteln ergriff Sorin erneut das Wort.
„Das sind alles gute Ideen, aber ihr vergesst etwas Wesentliches. Das Erste, das wir tun sollten, ist mit den Vampiren Kontakt aufzunehmen. Wir sollten ihnen einen Brief schreiben und die Freilassung Tias fordern. Wir müssen ihnen klar machen, dass ihr Handeln andernfalls Konsequenzen nach sich ziehen wird."
Valentin nickte bedächtig. „Das sollten wir in der Tat. Es wird zwar nicht zum gewünschten Erfolg führen, doch können wir so unseren Standpunkt klar machen."Samuel trat noch einen Schritt weiter nach vorne.
„Mit dieser Tat sind die Vampire endgültig zu weit gegangen. Sie wollen Krieg? Den können sie haben."
Lauter Applaus brandete durch die Halle.
Mit einem grimmigen Lächeln ließ Samuel das Rudel jubeln. Das war genau die positive Stimmung, die sie brauchten, wenn sie auch nur die Aussicht auf Erfolg haben wollten.
Erst viel später, als der Applaus drohte abzuflachen, hob der Alpha beide Hände.
Sofort verstummten Alle.
„Wir werden den Krieg ab sofort an mehreren Fronten kämpfen. Ich werde noch heute einen Brief an den Vampirkönig schicken, der ihm unseren Standpunkt klar machen sollte.
Außerdem werde ich mich mit den Ältesten und den Trainern besprechen, wie wir unsere Heranwachsenden am besten und zugleich sichersten in die Aktionen einbinden können."
Erneut erfüllte Jubel den Raum, als die Halbwüchsigen die Gewissheit bekamen, auch weiterhin beteiligt zu werden. Doch dieses Mal stoppte Samuel ihn sofort.
„Was bisher feststeht ist, dass es mehrere Einsatztruppen geben wird. Egal, für welche ihr auch eingeteilt werdet: sie sind allesamt gleichermaßen wichtig.
Ein Teil von uns wird das Gelände um die Burg erkunden. Ein weiterer Teil wird nicht nur das Rudel auf der anderen Seite der Burg aufsuchen und um Hilfe bitten, sondern auch die übrigen angrenzenden Rudel.
Der Rest – und das ist genauso wichtig, wie alles andere – wird für die Sicherheit des Dorfes und unseres Nachwuchses sorgen."
Valentin trat nun ebenfalls an den Rand des Podestes, als vor allem bei den jüngeren Rudelmitgliedern unwilliges Gemurmel aufkam.
„Diese Aufgabe mag euch langweilig erscheinen, doch es ist mit die Wichtigste. Ohne die Wölfe, die hier im Lager ihren Dienst verrichten, können die anderen Gruppen nicht frei agieren. Ihr werdet nicht nur unser Dorf bewachen, sondern euren Freunden auch den Rücken freihalten. Nur so können diese sich voll und ganz ihrer Aufgabe widmen. Nur so brauchen sie keinen Angriff von hinten zu fürchten."
Zustimmend senkten das Rudel die Köpfe und Samuel ergriff wieder das Wort.
„Die Versammlung ist hiermit fürs Erste beendet. Die Halbwüchsigen und die Jungwölfe melden sich bitte bei ihren jeweiligen Ausbildern. Besprecht mit ihnen, welcher Gruppe ihr euch gerne anschließen möchtet und lasst euch gegebenenfalls von ihnen beraten. Sie kennen euch und eure Fähigkeiten seit vielen Jahren. Die Altwölfe überlegen selbst, für welche Einheit sie sich melden möchten. Bedenkt dabei jedoch, dass wir in allen Gruppen sowohl erfahrene, als auch junge Kämpfer benötigen. Meldet eure Entscheidung bis heute Abend an Yagon.
Valentin, Yagon und ich werden uns dann mit den Ausbildern zusammensetzen, um die Truppen sinnvoll einzuteilen. Wo es möglich ist, werden wir eure Wünsche berücksichtigen. Dennoch behalten wir uns vor, Einzelne auch anderen Gruppen zuzuteilen, wenn wir es als sinnvoller erachten."Samuel saß an seinem provisorischen Schreibtisch, Valentin ihm gegenüber.
Ein letztes Mal ließ er die Feder über das Papier vor ihm gleiten und setzte seine Unterschrift auf das Blatt.
Mit nachdenklich gerunzelter Stirn überflog er den Text, den er soeben geschrieben hatte, und schob den Brief dann seinem Beta zu.
„Was meinst du, Valentin?"
Der Wandler zog das Pergament zu sich heran.
„An Simon, den König der Vampire!
Indem ihr feige und ehrlos meine Tochter entführt habt, habt ihr den Krieg auf eine neue Stufe gehoben.
Ich fordere Euch – und das einmalig – auf, meine Tochter freizulassen. Dies ist der einzige Weg, wie ihr entsprechende Konsequenzen vermeiden könnt. Sollte sich Tia am dritten Abend nach Neumond nicht wieder gesund und wohlbehalten bei mir befinden, werde ich aufs Härteste gegen Euch vorgehen. Es wird keine Tabus mehr geben. Ich werde tun, was getan werden muss.
Gez. Samuel, Alpha der Werwölfe"
„Hm..." Konzentriert las Valentin den Brief ein zweites Mal.
„Sollten wir erwähnen, dass es gefährlich für Tia ist, wenn sie ihr weiterhin Wolfswurz geben?"
Samuel lehnte sich zurück und seufzte erschöpft. „Das hatte ich auch erwägt. Allerdings sollten diese Blutsauger intelligent genug sein, um selber zu merken, was sie damit anstellen – sofern sie es überhaupt schaffen, Tia diese Droge einzuflößen. Freiwillig wird sie das Gift bestimmt nicht nehmen. Sie weiß, worum es geht. Auch wenn wir heute mit der gezielten Vorbereitung von Tia und Joran anfangen wollten, haben die zwei von klein auf gelernt, was sie können und wissen müssen. Vor allem Tia. Als Alphatochter wird diese Phase bei ihr noch intensiver ausfallen. Ich bin also positiv gestimmt, dass sie es auch ohne unsere Hilfe schaffen wird – sofern sie eben kein Wolfswurz zu sich nimmt oder anderweitig geschwächt wird.
Wenn wir den Vampiren jetzt davon erzählen, würden wir ihnen eine nur einen Angriffspunkt bieten, was vielleicht unnötig ist."
„Du hast recht. Wir sollten unseren Feinden diese Information nur im Notfall geben." Mit einem grimmigen Lächeln schob Valentin den Brief zu Samuel zurück, der ihn zusammenrollte und sein Siegel darauf setzte.Wenige Minuten später betrat ein junger Krieger das Büro. „Du wolltest mich sprechen, Alpha?"
„Ich habe einen Auftrag für dich, Arran. Dieser Brief muss den Vampiren zugestellt werden."
Der Mann nickte. „Ich werde mich sogleich darum kümmern." Arran trat auf den Schreibtisch zu und griff nach dem Brief.
Samuel sah ihn ernst an. „Es ist ein Ultimatum an unsere Feinde. Ich fordere Simon darin auf, Tia frei zu lassen, und drohe ihm mit Konsequenzen, sollte er meiner Forderung nicht nachkommen."
Der junge Wandler verneigte sich leicht. „Ich danke dir, Alpha. Ich werde ihn schnellstmöglich überbringen."
„Darauf wollte ich hinaus. Melde dich bei mir, sobald du den Auftrag ausgeführt hast."Es knackte kurz, als Arran sich wandelte.
Im nächsten Moment stand ein schlanker und wendiger Werwolf im Büro. Sein Fell hatte die Farbe von trockenem Laub. Genau deshalb beauftragte Samuel gerne Arran mit derartigen Aufgaben, da ihm seine Fellfarbe eine gute Tarnung bot.
Behutsam nahm der Wolf den Brief ins Maul.
Arran machte sich nicht die Mühe, den Raum durch die Tür zu verlassen. Stattdessen hechtete er auf das geöffnete Fenster zu, sprang hinaus und war kurz darauf im Wald verschwunden.
Samuel und Valentin sahen ihm kopfschüttelnd hinterher.
„Immer dieser jugendliche Übermut."
„Aber er ist und bleibt nun mal der Beste für solche Aufträge. Wir können uns blind auf ihn verlassen."In einem großen Bogen näherte sich Arran der Vampirburg. Kaum ein anderer Werwolf war bisher so nah an die Burg herangekommen wie er.
Noch lange bevor er den Wald verließ, stellte Arran witternd die Ohren auf, doch er konnte niemanden in der Nähe erkennen. Verständnislos suchte er die Umgebung ab. Entweder waren die Vampire mehr als leichtsinnig, oder sie fühlten sich sehr sicher. Allerdings konnte und wollte Arran kein Risiko eingehen.
Er duckte sich in das welke Laub und schlich, dicht an den Boden gepresst, zu der Steinplatte, die seit jeher als Ablageplatz für Briefe diente.
Er kannte diese Platte gut. Früher musste sie einmal einem Mahnmal gleich am Waldrand gestanden haben. Doch der Zahn der Zeit war nicht spurlos an ihr vorübergegangen.
Im Laufe der Jahrhunderte war die Platte gebrochen und umgefallen – oder umgekehrt. Das ließ sich nicht mehr sagen, war aber auch nicht relevant.
Interessanter war die Inschrift, die stellenweise noch lesbar war. Von einem Julius war die Rede. Und von einem großen Feuer, das auf der Burg gewütet hatte und in dem dieser Julius verschwunden war.
Ein letztes Mal hob Arran witternd die Schnauze, bevor er sich aus seiner geduckten Position aufrichtete und den Brief auf der Platte ablegte.
Ohne zu zögern, drehte er sich um und verschwand mit einigen großen Sätzen im Wald.
Erst dort, geschützt vom dichten Blätterwerk der Bäume, stieß er ein lautes Heulen aus – das Zeichen für die Vampire, dass ein Brief bereit lag.
Irgendwann in den nächsten Stunden würde ein Vampir den Brief holen, doch dann wäre er längst wieder zurück in der Sicherheit des Dorfes. Zwar herrschte hier, an diesem Ort, das ungeschriebene Gesetz des Waffenstillstands, doch jeder Werwolf wusste, dass den Vampiren nicht zu trauen war. Daher war es besser, sich nicht länger als nötig derart nahe der Burg aufzuhalten.
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Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die Geisel
VampirDie Vampire haben die alte Schriftrolle gedeutet. Es ist ihnen gelungen, die junge Wandlerin Tia zu entführen und sicher im Kerker wegzusperren. Dort soll das Mädchen künftig ihr Dasein fristen. Doch ihr Rudel wird alles daran setzen, Tia zu befreie...