Am Abend trafen sich Samuel und Valentin mit den Ausbildern im Rudelhaus.
Jeder der Ausbilder hatte einen Stapel Pergamente vor sich, auf dem er die Wünsche seiner Schützlinge, sowie die persönliche Empfehlung notiert hatte.
„Möchtest du anfangen, Giso?"
Dieser nickte. „Sehr gerne. Wenig überraschend haben sich einige der mir zugeteilten Halbstarken nur für die – in ihren Augen – spannenden Aufgaben gemeldet. Darunter auch Zeron und Lyn.
Es gab aber auch einige, die sich freiwillig für die Patrouillen gemeldet haben, wie zum Beispiel Joran. Gerade seine Entscheidung befürworte ich. Als engster Freund von Tia wäre es das naheliegendste gewesen, wenn er eine der anderen Aufgaben hätte übernehmen wollen. Aber der Junge hat einmal mehr gezeigt, dass er vernünftig und besonnen ist. Ich hätte ihm zwar auch zugestanden, die Burg auszuspionieren, doch er hat abgelehnt. Er weiß, dass er sich besonders auf seine Wandlung vorbereiten muss und dass dies mit den anderen Aufträgen nur schwer zu vereinbaren ist."
Anerkennend neigten die anderen Ausbilder den Kopf.
„Diese Vernunft würde ich mir von dem ein oder anderen meiner Gruppe auch wünschen", warf Sorin ein.
Giso nickte. „Was Lyn betrifft: Es war ihre Idee, die Burg auszukundschaften. Sofern sie von einem erfahrenen Wolf begleitet wird, halte ich sie für durchaus für geeignet, diese Aufgabe zu übernehmen. Daher würde ich vorschlagen, Lyn für die Spionageeinheit einzuteilen."
Samuel warf einen kurzen Blick in die Runde und nickte dann. „Einverstanden. Wer an Lyns Seite bleibt, können wir später noch entscheiden. Was ist mit Zeron?"
Giso seufzte. „Natürlich möchte er ebenfalls die Burg ausspionieren. Aber ich halte ihn für zu unbedacht und ungestüm. Auf meine Bedenken wollte der Junge jedoch nicht hören."
„Also ebenfalls Patrouille rund ums Dorf?" Valentin blickte fragend in die Runde, doch Giso schüttelte den Kopf.
„Ich hätte eine andere Idee, Beta. Der Junge brennt darauf, gegen die Vampire zu kämpfen, und gerade deshalb wüsste ich ihn gerne möglichst weit weg von hier. Wir können uns nicht auch noch darum kümmern, dass er keine Alleingänge startet."
Samuel brummte unwillig. „Einem direkten Befehl von mir wird er sich nicht widersetzen können. Aber erzähl: Was ist deine Idee?"
Giso grinste schelmisch. „Mein Vorschlag wäre, ihn möglichst weit von der Burg wegzuschicken.
Lassen wir ihn die Delegation begleiten, die eines der Nachbarrudel aufsucht."
Samuel und Valentin sahen sich an. Und obwohl die Situation ernst war, mussten sie kurz lachen.
„Du willst ihn also aus dem Weg räumen?"
Giso blinzelte unschuldig. „Das klingt aber gar nicht nett, Alpha. Aber ja. Wenn er weit genug von hier weg ist, kommt er gar nicht in Versuchung, Unsinn anzustellen."
„Gut. Dann wäre auch das geklärt."
Es war bereits spät in der Nacht, als alle Gruppen eingeteilt waren.
Schließlich klappte Samuel seine Schreibmappe zu.
„Die nächste Zeit wird sehr anstrengend für uns alle werden und ich weiß nicht, wie viel Schlaf wir dabei noch bekommen werden. Lasst uns also nun zu Bett gehen, damit wir für morgen gestärkt sind.Der Nebel lag noch über den Wiesen und tauchte selbst die Stämme der Bäume in ein sanftes Zwielicht. Fern am Horizont schickte die Sonne ihre ersten schwachen Strahlen über die Landschaft. Ein einsamer Rabe stieß sich vom höchsten Turm der Vampirburg ab und näherte sich in ruhigem Flug dem Wald. Über der Lichtung des ehemaligen Dorfes begann sie zu kreisen. Immer tiefer zog sie ihre Kreise, bis sie nur noch wenige Meter über dem Boden entlangflog und beinahe die Wipfel der Bäume berührte. Nach und nach zog sie ihre Kreise immer enger, doch schließlich landete sie auf dem Giebel des Rudelhauses. Das Tier schlug kräftig mit den Flügeln und stieß ein lautes Krächzen aus, doch unter ihr blieb alles ruhig.
Vorsichtig hüpfte der Rabe bis an den Rand des Giebels und äugte nach unten auf die Freifläche.
Erneut stieß er ein lautes Krächzen aus und ließ dann die Pergamentrolle, die er bisher mit seinen Krallen festgehalten hatte, zu Boden fallen.
Interessiert beobachtete das Tier, wie der Brief zu Boden segelte, bevor er erneut mit den Flügeln schlug, aufstieg und zur Burg zurückflog.Einige Kilometer weiter erwachte Samuel aus einem leichten und unruhigen Schlaf.
Müde und erschöpft rieb er sich die Augen. Die Nacht war nicht wirklich erholsam für ihn gewesen. Der Gedanke an seine Tochter und ob es ihr gut ging, hatte ihm keine Ruhe gelassen.
Ruckartig setzte Samuel sich auf, als er aus der Ferne das Krächzen eines Raben hörte, das sich kurz darauf sogar wiederholte.
Im nächsten Moment hatte er sich bereits gewandelt und sprang aus dem Fenster.
Doch noch bevor er den Waldrand erreichen konnte, stellte sich Valentin – ebenfalls in seiner Wolfsform – ihm entgegen.
„Du solltest nichts überstürzen, Samuel", sprach er ihn über die Gedankenverbindung an.
Samuel stieß ein kehliges Knurren aus. „Geh mir aus dem Weg. Die Blutsauger haben uns garantiert eine Nachricht zugestellt. Ich will wissen, wie es meiner Tochter geht."
Valentin ließ sich weder von Samuels Knurren, noch von seinen Worten beeindrucken.
„Ich habe die Raben auch gehört. Aber dein Platz ist hier. Lass uns Arran schicken, den Brief zu holen."
Nur langsam entspannte sich der Alpha und gab seine Drohhaltung auf.
Schließlich wandelte er sich zurück und sank zu Boden.
„Danke, Valentin, dass du mich aufgehalten hast. Ich hätte sonst eine große Dummheit begangen. Du hast recht: Mein Platz ist hier und Arran ist für diese Aufgabe wie geschaffen."
Auch Valentin wandelte sich nun zurück und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter.
Samuels Körper bebte, als ein Zittern über seinen Körper wanderte und er noch weiter in sich zusammen sackte.
„Ich vermisse Tia und habe Angst um sie. Ich will sie nicht verlieren...".
„Das wirst du nicht. Was auch immer diese elenden Blutsauger von ihr wollen: Ich bin mir sicher, dass sie Tia nicht töten werden, weil sie sie lebend brauchen."
Samuel nickte schwach.
„Ich sollte in mein Büro und die Versammlung vorbereiten. Informiere du bitte Arran. Er soll den Brief direkt zu mir bringen."
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Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die Geisel
VampirDie Vampire haben die alte Schriftrolle gedeutet. Es ist ihnen gelungen, die junge Wandlerin Tia zu entführen und sicher im Kerker wegzusperren. Dort soll das Mädchen künftig ihr Dasein fristen. Doch ihr Rudel wird alles daran setzen, Tia zu befreie...