Als ich zusammen mit Marielle und Alessa das Klassenzimmer betrat, sah ich unsere neue Mitschülerin schon an einem Platz alleine in der mittleren Reihe sitzen. Ich erinnerte mich noch daran, dass sie vor den Sommerferien türkisfarbene Haare gehabt hatte. Nun hatte sie schwarze mit lilafarbenen Spitzen, was eigentlich echt gut aussah.
»Das ist diese Juna«, flüsterte Marielle uns zu und zeigte auf Juna, die daraufhin ihren Blick, der zuvor noch neugierig auf uns gelegen hatte, schnell auf den Block vor ihr richtete.
»Habe ich auch schon bemerkt. Und wieder mit anders gefärbten Haaren. Sieht zumindest ein bisschen besser aus als das türkis«, kommentierte ich. Juna hatte heute wieder etwas an, das ziemlich typisch für sie war. Eine weite schwarz-lilafarbene Hose und ein Oberteil mit etwas komplizierterem Schnittmuster. Wie so oft fragte ich mich, ob sie das so gekauft hatte oder sie ihre Klamotten selbst nähte. Wenn es letzteres war, hatte sie wirklich ein Talent dafür. Auch wenn ich selbst solche Klamotten niemals anziehen würde, aber zu ihr passte es irgendwie.
»Mal sehen, wie lange die Farbe bleibt. Aber was die heute schon wieder an hat. Einfach nur schrecklich«, kommentierte Marielle. Alessa und ich nickten zustimmend. »Setzen wir uns in die vorletzte Reihe? Ganz hinten werden wahrscheinlich Chris und so sitzen.«
»Also hinter Juna?«, warf Alessa skeptisch ein. Marielle zuckte mit den Schultern.
»Dann halt auf die andere Seite?«, brachte sie einen weiteren Vorschlag.
»Aber wenn ihr euch dann die Hoffnung macht, dass Chris und so hinter uns sitzen. Vergesst es. Die bleiben bei ihrem Fensterplatz, um uns im Winter schön mit offenen Fenstern den ganzen Tag lang zu quälen«, mischte ich mich ein.
»Dann wird es wohl doch die Fensterseite«, seufzte Marielle. »Wenigstens hat sich Juna nicht in die vorletzte Reihe gesetzt.«
»Die wäre dann schon gegangen, wenn wir sie darum gebeten hätten. Sie ist ja die Neue und nicht wir«, gab Alessa überzeugt von sich.
»Also kommt, hinsetzen. Ich will nicht weiter stehen«, unterbrach ich die Diskussion, da ich mir langsam blöd vorkam, in der Mitte vom Klassenzimmer zu stehen, während alle anderen, die das Zimmer betraten, sich sofort irgendwo hinsetzten.
»Ich will an das Fenster!«, meinte Marielle und sicherte sich schnell ihren Platz.
»Hey, du warst da schon letztes Jahr! Und das Jahr zuvor auch! Jetzt darf ich endlich mal. Weg da!«, Energisch schob Alessa Marielle vom Stuhl, die zwar protestierte, aber schließlich den Platz frei machte und sich auf den Platz daneben setzte. Also machte ich es mir auf dem dritten Platz gemütlich. Der Vierte war leer. Und blieb es hoffentlich auch. Dann hätte ich endlich mal genügend Platz, meine ganzen Sachen auszubreiten. Die Schultische waren mir immer viel zu klein, wenn noch jemand neben mir saß.
Es hatte sich niemand mehr neben mich gesetzt. Der Schultag fing langweilig an und wurde die ganze Zeit über nicht spannender. Wir hatten den Unterricht schon ganz genau nach Stundenplan. In jeder Stunde wurde allerdings viel über die Oberstufe gesprochen und was deswegen jetzt auf uns zu kam. Der Stundenplan an sich war recht in Ordnung. Er verursachte immerhin keine Konflikte mit meinen Arbeitszeiten als Kellnerin. Außerdem hatte ich zwischen den Stunden immer mal wieder Freistunden, was mir viel angenehmer erschien, als einen vollen Tag vom Anfang bis zum Ende zu haben.
Als unser Chemielehrer uns endlich aus der letzten Stunde entließ und ich mich gerade auf den Weg machen wollte, Finn vom Kindergarten abzuholen, hielt Marielle mich zurück.
»Alessa, Alenia. Schaut mal, was ich hier gefunden habe!« Sie hielt uns ihr Handy entgegen. Ich ließ meinen Rucksack wieder auf den Boden fallen und beugte mich über das Handy, während der Rest der Klasse eilig den Raum verließ. Marielle hatte auf ihrem Handy ein Instagramprofil geöffnet. Sie kicherte. Ich beugte mich näher zum Handy, um die Bilder erkennen zu können. Auf ein paar Bildern war eine Person in einem Kostüm. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um Cosplay. Ich überflog die Bilder und sah auch einige ohne Kostüm und mit einer zweiten Person. Es machte auf mich den Eindruck, als ob das Tanzvideos waren. Ich hielt inne. Die Person auf den Bildern kam mir bekannt vor. Ich warf einen Blick auf Junas Platz, um mich zu vergewissern. Dieser war allerdings schon leer. Also schaute ich noch einmal auf das Handy. Nun auf die Followerzahl. Um die 9.000 waren es.
»Krass«, kommentierte ich.
»Eher verrückt«, kommentierte Marielle. »Wie kann man für so etwas so viele Follower bekommen?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Na ja, auf jeden Fall ein seltsames Hobby. Dass sie sich nicht schämt, sich mit so einem Kinderkram vor tausenden Menschen zu zeigen.« Alessas Stimme triefte vor Abneigung.
»Oh ja, das stimmt. Aber ich muss jetzt gehen und Finn abholen. Ich habe ihm ein Eis versprochen. Und ich muss heute auch noch zum Kellnern und da sollte ich definitiv nicht zu spät kommen. Wenn ich aber nicht so langsam losgehe, bekommt entweder Finn nicht sein Eis oder ich komme zu spät«, erklärte ich leicht beschämt. Es war mir immer noch unangenehm, dass ich einen Job brauchte, meine beiden Freundinnen aber nicht, weil ihre Familien genug Geld hatten. Marielle und Alessa ließen mich gehen und ich beeilte mich, zum Kindergarten zu kommen. Als ich dort ankam, sprang Finn sofort mit einem Strahlen auf dem Gesicht auf mich zu. Innerhalb von zwei Minuten waren wir aus dem Kindergarten draußen und auf dem Weg zu Finns Lieblingseisdiele. Wir aßen unser Eis auf dem Weg nach Hause, damit ich es noch rechtzeitig zum Restaurant schaffte. Und tatsächlich war ich letztendlich sogar zehn Minuten zu früh zu meiner Schicht da.
Ich ging in die Küche und traf dort Feline, meine beste Freundin, die ich erst durch das Kellnern kennen gelernt hatte. Dort umarmte ich sie kurz und musterte sie dann.
»Hi, zum Schulbeginn auch eine neue Haarfarbe?«, begrüßte ich sie.
»Natürlich. Sind aber doch nur weiße Strähnen, damit meine sonst braune Haare wieder etwas spannender werden. Und was heißt hier »auch»? Also ich sehe ja immer noch die blonden Haare, die du schon hast, seit ich dich kennengelernt habe.« Feline beäugte mich stirnrunzelnd und musterte meine Haare so intensiv, als ob sie dadurch eine andere Farbe bekommen würden.
»Als Kind waren die aber mal dunkler«, sagte ich schließlich nur, ohne weiter darauf einzugehen.
»Das war dann wohl auch die einzige Veränderung deiner Haarfarbe in deinem ganzen Leben. Also warum »auch»?«
»Wir haben eine neue Mitschülerin. Und die hatte vor den Sommerferien noch türkise Haare. Jetzt sind sie schwarz mit lila Spitzen.«
»Sympathisch. Wie ist sie so?«
»Keine Ahnung. Ich habe nicht wirklich mit ihr geredet.« Stattdessen über sie mit Marielle und Alessa abgelästert. »Aber sie hat die Klasse wiederholt, weshalb sie jetzt auch in unserer Klasse ist. Deswegen kenne ich sie schon vom Sehen. Und ich habe heute heraus gefunden, dass sie einen Instagramaccount hat, auf dem sie cosplayt und irgendetwas tanzt«, erklärte ich zögernd, da mir erst in diesem Moment bewusst wurde, dass Feline auch cosplayte. Zwar zeigte sie sich nicht auf einem Instagram, aber wenn sie auf irgendwelche Anime oder Gaming Messen ging, sah man sie dort immer nur in einem Cosplay. Und sie hatte auch einen eher außergewöhnlichen Kleidungsstil - so wie Juna.
»Ach, wie cool! Und da redest du nicht mit ihr? Zeig mal ihren Instagramaccount. Wir haben ja noch ein paar Minuten, bevor wir uns fertig machen müssen.«
Wieder zögerte ich. Warum? Weil ich sie schlecht gemacht hatte? Warum hatte ich das eigentlich überhaupt gemacht? Hatte ich überhaupt gar nicht nachgedacht? Trotzdem suchte ich nach Junas Instagramaccount. Mein Finger schwebte für eine Sekunde über dem Abonnieren Button, aber ich ließ es letztendlich sein und gab Feline mein Handy.
»Krass, fast 10.000 Follower. Oh, und du gehörst noch gar nicht dazu. Darf ich?«, Als ich zwar nicht nickte, aber den Kopf auch nicht schüttelte, drückte Feline wie selbstverständlich auf »abonnieren«. »Das sind nicht irgendwelche Tanzvideos. Sie tanzt zu K-Pop Choreos. Dass du das nicht erkannt hast.«
»Ich hatte ja auch nur das Standbild gesehen. Wie hätte ich das dann erkennen können? Feline hörte auch manchmal gerne K-Pop, auch wenn sie nicht dazu tanzte. Trotzdem eine weitere Gemeinsamkeit. Die beiden würden sich sicherlich gut miteinander verstehen. Warum hatte ich also am Anfang so eine Abneigung gegen Juna gehabt? Weil es nicht der Norm entsprach und Marielle und Alessa nicht so waren?
»Was macht ihr denn? Los, anfangen zu arbeiten. Es sind gerade zwei neue Familien gekommen! Macht euch fertig und dann geht es aber endlich los.« Agata. Unsere Chefin. Seufzend gab Feline mir mein Handy zurück und wir verließen die Küche. Kurz spielte ich mit den Gedanken, Juna doch noch schnell wieder zu entfolgen, bevor es jemand aus meiner Klasse bemerkte, ließ es aber dann doch. Es war ja schließlich nicht verwerflich, Juna zu folgen, oder doch?
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Wenn wir uns sehen können
Teen FictionAlenia und Juna leben in komplett unterschiedlichen Welten. Alenia ist eine beliebte Schülerin, die gerne shoppen geht und viel Zeit mit ihrem Freundeskreis verbringt. Sie hat ein Faible für teure Designerkleidung und ist immer auf der Suche nach de...