Kapitel 6 - Juna

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Ich riss meine Augen auf. Atmete schneller.

»Luke«, flüsterte ich verzweifelt. »Luke!«

Langsam kam ich wieder in der Realität an. Das gerade war nur ein blöder Traum. Luke ist nicht auf seinem Geburtstag an seinem Kuchen erstickt. Er ist kein zweites Mal gestorben. Mit schweißnasser Hand, strich ich mir die nassen Haare von meiner Stirn und richtete mich zitternd auf. Das war nur ein Traum. Das war nur ein Traum. Das war nur ein verdammter Traum. Immer wieder wiederholte ich diese Worte, in der Hoffnung ihnen endlich Glauben schenken zu können.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Erst kurz vor Mitternacht. Kurz vor seinem Geburtstag. Vor seinem Geburtstag, den er nicht mehr feiern konnte. Die Bilder tauchten vor meinem Auge wieder auf. Wie Luke mich glücklich anschaute. Dann wurde alles plötzlich dunkler. Wut kam in seinen Augen auf. Diese unfassbare Wut traf mich stärker als hunderte Messerstiche. Dann hustete er und sackte auf dem Boden zusammen. Und war tot. Einfach tot! Mein Herz schlug immer noch viel zu schnell. Ich bekam Panik. Mein Zimmer erdrückte mich. Ich musste raus hier! Ich hielt das nicht länger aus. Mit wackeligen Beinen stand ich auf, zog mir eine Jogginghose und einen Pullover über. Dann schlich ich leise aus meinem Zimmer, um meine Eltern nicht aufzuwecken. Im Eingangsraum angekommen, zog ich mir die erstbesten Schuhe, die ich fand, über, nahm meinen Schlüssel und verließ das Haus. Kontrollierte dreimal, ob ich die Haustüre auch wirklich geschlossen hatte. Und dann, ob ich den Schlüssel auch wirklich dabei hatte. Ohne groß darüber nachzudenken, ging ich in irgendeine Richtung. Immer wieder umklammerte ich mit meinen Fingern den Schlüssel in der Jackentasche, um mich zu vergewissern, dass ich ihn auch wirklich noch dabei hatte. Verlieren durfte ich ihn auf keinen Fall. Ich wollte später nicht vor verschlossener Tür stehen. Ich prüfte, ob mein Handy da war. Das war es. Ich schaltete es an, ohne dabei langsamer zu werden. Vier Minuten noch. Vier verdammte Minuten noch, dann war es so weit. Dann würde Luke ein Jahr älter sein. Ich biss mir auf die Lippe. Warum war das Leben nur so unfair? Ein Auto fuhr an mir vorbei. Mit mindestens 10 km/h zu viel als erlaubt. Musik dröhnte aus dem Inneren und erfüllte die Stille der Nacht mit Leben. Aber ich beachtete es nicht mal richtig. Ich spähte wieder auf mein Handy und wäre dabei fast gegen eine Straßenlaterne gelaufen. Im letzten Moment konnte ich noch ausweichen. Eine Minute vor Mitternacht. Ich tippte zwei Mal auf die Uhranzeige. Noch über 40 Sekunden. Ich wurde langsamer. Noch 30 Sekunden. Ich umklammerte mein Handy fester. Hatte ich die Haustüre wirklich komplett geschlossen oder war sie noch einen Spalt offen? Noch 20 Sekunden. Der Schlüssel lag immer noch sicher in meiner Hand. Noch 10 Sekunden. 9. 8. 7. 6. Ich blieb stehen. 5. 4. 3. Meine Hand fing an zu zittern. 2. 1. Mitternacht.

Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten und sackte auf den kalten Teer. Ich schluchzte laut auf. Ich zitterte am ganzen Körper. Verständnislos sah ich auf das Datum, das sich nun geändert hatte. Der 2. Oktober. Ein Tag, an dem ich sonst immer vollkommen glücklich war. Nun saß ich mitten in der Nacht einsam auf dem Weg und weinte. Ein weiteres Auto fuhr vorbei. Ich zuckte zusammen. Es wurde schneller, als es an mir vorbei war. Ich versuchte aufzustehen, doch meine Beine fühlten sich kraftlos an. Trotzdem stand ich nun wieder. Handy, Schlüssel, alles war noch da und nicht auf den Boden gefallen. Ich setzte mich wieder in Bewegung. Ich wollte weg von hier.

Die nächsten Minuten lief ich, ohne die Umgebung überhaupt nur wahrzunehmen. Tränen flossen mir über die Wangen, aber mein Gesicht blieb ausdruckslos. Ich machte keine Geräusche. Nur meine Schritte hörte man auf dem Asphalt. Hin und wieder schoss ein Auto an mir vorbei. Aber ich zuckte kein einziges Mal zusammen.

Als eine Abzweigung in den Wald kam, nahm ich diese, statt weiter entlang der Straße zu laufen. Dieser Weg führte mich zum Spielplatz, der sogar leicht beleuchtet war. Als es auch noch anfing zu tröpfeln, steuerte ich darauf zu. Meine Schuhe knirschten in dem Kies. Mein Handy umschloss ich fester. Meine Schlüssel machten ein leises Geräusch. Ich setzte mich unter der Plattform, die zum Gestell der Schaukel gehörte, als Schutz vor dem Regen und umklammerte meine Beine. Sowohl Schlüssel als auch Handy ließ ich nicht los. Dafür aber ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Ich weinte minutenlang. Ich hatte keinerlei Zeitgefühl mehr. Irgendwo aus der Ferne hörte ich zwei Tiere - wahrscheinlich Katzen - miteinander kämpfen. Doch es machte mir keine Angst. Mir war gerade alles so egal. Ich konnte nur an Luke denken. Die Schuldgefühle plagten mich so sehr. Der Schmerz ließ einfach nicht nach. Er könnte heute seinen Geburtstag feiern. Mit uns. Mit seinen Freunden. Aber er verbrachte den Tag auf dem Friedhof. Das hatte er nicht verdient. Er hätte noch so viele Jahre leben können. Verzweifelt fuhr ich mir durch die Haare.

Auf einmal setzte sich eine Gestalt neben mich. Ich zuckte so stark zusammen, wie schon lange nicht mehr. Mit großen Augen starrte ich die Person neben mir an, die mich entschuldigend anlächelte. Es war Alenia. Mein Herz schlug schneller. Schnell wischte ich mir mit dem Handrücken über das Gesicht, um meine Tränen wegzuwischen. In dieser Verfassung sollte Alenia mich eigentlich nicht sehen. Das war ein gefundenes Fressen, um sich mit ihren Freundinnen über mich lustig zu machen. Ich betrachtete Alenia. Sie hatte sich einen unordentlichen Dutt gemacht und hatte lockere Kleidung an. Der Anblick war ungewohnt.

»Was machst du hier?«, fragte ich schließlich mit zittriger Stimme. Mein Handy und den Schlüssel verstaute ich in meiner Jackentasche, um irgendetwas tun zu können.

»Das gleiche könnte ich auch dich fragen«, erwiderte Alenia und musterte mich. »Ich habe eine kurze Auszeit von zu Hause gebraucht. Und dann habe ich dich hier sitzen sehen«, erklärte sie schließlich nach langem Schweigen, als keine Antwort von mir kam. Ich fragte nicht nach, warum. Wahrscheinlich bekam sie statt zweihundert Euro Taschengeld fünfzig Euro weniger. Oder Papi kaufte ihr nicht die neuesten Designerschuhe. Und das passte ihr nicht.

»Warum bist du dann zu mir gekommen? Dir ist schon bewusst, dass dich das bei den anderen nicht gerade beliebt machen wird? Du hättest auch wieder gehen können, als du mich gesehen hast«, hakte ich nach und versuchte, meine Tränen unter Kontrolle zu halten. Alenia zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht habe ich auch einfach Gesellschaft gebraucht und du warst die Einzige, die sich dafür angeboten hat.«

Darauf erwiderte ich nichts. Wir schwiegen uns an. Ich betrachtete den Halbmond und die Sterne am Himmel. Es war eigentlich ein ganz schöner Anblick. Aber Alenias Präsenz war mir viel zu deutlich bewusst.

»Wie lief der Mathetest gestern?«, fragte Alenia mich schließlich.

»Es hätte besser laufen können. Aber deine kleine Nachhilfestunde hat mir definitiv geholfen. So habe ich wenigstens die Hoffnung, dass es mehr als ein Punkt wird«, antwortete ich ehrlich und war froh, dass Alenia nicht weiter nach dem Grund fragte, weshalb ich hier war.

»Immerhin«, kommentierte Alenia nur. Es klang so, als würde sie noch etwas hinzufügen wollen. Was sie nicht tat.

»Danke deswegen nochmal«, sagte ich deswegen.

Alenia zuckte mit den Schultern. »Ich hatte ja nichts Besseres zu tun, und wenn man jemand anderem, etwas erklärt, verinnerlicht man selbst die Inhalte auch gleich viel besser. Es hat mir also auch etwas geholfen«, brachte sie eine Erklärung, die sich fast schon wie eine Ausrede anhörte.

»Ich geh dann jetzt wieder zurück«, sagte ich schließlich und stand auf. Alenia blickte mich fast schon ein bisschen enttäuscht an. Bildete ich mir das nur ein? Aber wieso sollte sie enttäuscht sein? Immerhin hatte sie nun ihre Ruhe.

»Oh, okay. Komm gut nach Hause.«

»Danke.« Mit diesen Worten ging ich. Ein kleiner Stich durchfuhr meinen Körper, als Alenia nicht weiter darauf reagierte. Mein naives Ich hatte die Hoffnung gehabt, Alenia würde mich noch ein wenig begleiten, aber sie blieb sitzen und mit jedem Schritt entfernte ich mich weiter von ihr. Was wahrscheinlich auch besser war. Was bildete ich mir nur ein, dass Alenia freiwillig auch noch Zeit mit mir verbrachte? Wahrscheinlich kam sie öfters hier her und ich hatte nur ihren Platz weggenommen. Ich seufzte. Immerhin hatte sie mich ein wenig auf andere Gedanken gebracht. Fast schon panisch ließ ich meine Hand in meine Jackentasche gleiten. Der Schlüssel war noch da. Und mein Handy auch. Glück gehabt.

Wenn wir uns sehen könnenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt