Kapitel 24 - Juna

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Ich war nur selten bei Alenia zu Hause. Aber jedes Mal, wenn ich hier war, fühlte ich mich wohl. Vor allem, wie sie immer mit Finn umging, erwärmte mein Herz, auch wenn ich immer noch Schwierigkeiten hatte, in Finn nicht Luke zu sehen. Trotzdem war es heute anders. Wir haben noch immer kein einziges Wort über den Kuss verloren. Das konnten wir doch nicht weiter totschweigen. Oder hatte Alenia es schon wieder vergessen? Sollte ich auch einfach versuchen, es zu vergessen? Leana platzte in das Zimmer, holte das Ladekabel, das in der Steckdose steckte und ging wieder, ohne auch nur ein Wort zu mir zu sagen. Dann kam Alenia mit einer Tafel Schokolade ins Zimmer und setzte sich neben mich auf ihr Bett. Sie öffnete die Packung. Es knisterte. Dann brach sie zwei Rippen der Schokolade ab. Eine gab sie mir. Das andere nahm sie selbst. Es war eine ganz klassische braune Schokolade von Milka. Aber sie schmeckte gut. Ich ließ mir die Schokolade im Mund zergehen. Ich liebte es, sie so zu essen.

»Also, warum kontrollierst du seit dem was mit Luke passiert ist, immer deinen Schlüssel? Wie hängt das zusammen?«, fragte Alenia mich auch direkt. Ich hätte das lieber doch nicht erwähnen sollen. Es brachte doch überhaupt nichts, wenn ich jetzt mit Alenia darüber redete.

»Keine Ahnung«, antwortete ich also nur, obwohl ich mir schon denken konnte, warum. Ich hatte schon oft genug darüber nachgedacht. Darauf erwiderte Alenia nichts. Stattdessen gab sie mir noch mal ein Stück Schokolade. Es verging eine Minute. Zwei Minuten. Drei. Vier. Fünf. In denen wir nur Schokolade aßen. Und die Zeit verging zähend langsam.

»Es ist übrigens nicht nur das mit dem Schlüssel. Auch, ob mein Handy und Geldbeutel da sind, die Tür zu oder der Ofen aus ist. Alles, was in diese Richtung geht. Manchmal laufe ich nochmal fünf Minuten den Weg zurück nach Hause, nur um zu kontrollieren, ob die Türe auch wirklich zu ist«, sagte ich schließlich, um die Stille zu füllen.

»Aber warum?«, Alenia sah mich mitleidig an. Ich wollte kein Mitleid. Ich wollte, dass Luke wieder bei mir war. Wir zusammen spielten, lachten und den größten Quatsch machten. Eigentlich hatte ich es nicht verdient, weiter zu leben, wenn er es nicht mehr konnte. Ich hätte vielleicht den Tod von ihm verhindern können, wenn ich nur rechtzeitig bemerkt hätte, wie morsch dieses Geländer war. Und wenn ich ihn nicht dort hin gelassen hätte. Ich merkte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Ich versuchte, dagegen anzukämpfen. Ich wollte jetzt nicht weinen. Nicht schon wieder. Nicht vor Alenia. Wortlos nahm sie mich in den Arm. Mein Herz fing an, bei der plötzlichen Nähe schneller zu klopfen.

»Belastet es dich, ständig diese ganzen Sachen kontrollieren zu müssen?«

Ich nickte kaum merkbar.

»Wäre ... «, Alenia zögerte, weiterzureden. Fragend sah ich sie an. »Wäre es dann nicht vielleicht gut, wenn du mit einer professionellen Hilfe dieses Problem angehst? Bevor es sich noch mehr verschlimmert.«

Geschockt sah ich Alenia an.

»Du meinst, eine Psychotherapie?«

Alenia biss sich auf die Lippe und nickte, was kaum zu erkennen war.

»Nein«, sagte ich bestimmt.

»Warum nicht?«

»Weil andere einen Therapieplatz dringender als ich brauchen und so schlimm es bei mir ja nun wirklich nicht ist. Ich schade niemandem damit. Mir selbst auch nicht. Ich kann damit gut leben.«

»Warum traust du dich dann nicht mal, deine Großeltern zu sehen?«

»Was hat das jetzt damit zu tun? Wir haben doch über dieses ständige Kontrollieren geredet!«

»Aber das hat ja beides wahrscheinlich die gleiche Ursache.«

»Na und? Was würdest du denn tun, wenn Alessa und Marielle davon erfahren, dass ich in Therapie gehe? Würdest du zusammen mit ihnen über mich ablästern? Würdest du es der ganzen Schule erzählen, was für eine furchtbare Versagerin ich bin? Oder was würdest du tun?«

Alenia zog ihre Hand, die gerade noch auf meinem Oberschenkel gelegen hatte, so schnell weg, als hätte sie sich verbrannt. Sofort fühlte ich mich schlecht, dass ich sie so angefahren hatte, aber es frustrierte mich einfach, dass sie mit ihren Freundinnen so schlecht über mich redete, aber gleichzeitig so für mich da war und wir zusammen echt schöne Sachen erleben konnten. Auch ihr Schweigen seit der Messe. Ich hatte in Mathe wirklich gedacht, dass sie heute mit mir darüber reden wollte. Aber damit lag ich wohl auch falsch.

»Tut mir leid«, murmelte ich. »Aber ich finde es eigentlich schon ziemlich scheiße von dir, wenn du bei deinen Freundinnen so bezüglich mir bist. Wenn ich das so sagen darf.«

»Darfst du«, meinte Alenia zerknirscht. »Tut mir leid.«

»Dein tut mir leid bringt mir aber nicht viel, wenn du trotzdem so weiter machst, wie bis jetzt auch.«

»Da ist wohl was dran.«

»Genau.«

»Ich gebe mein Bestes, ja?«

»Und denkst du, dein Bestes wird genug sein?«

Für diese Antwort brauchte Alenia etwas länger.

»Ja«, sagte sie schließlich.

Ich merkte, dass das nicht einfach nur ein so schnell dahingesagtes »ja« war. Alenia meinte es auch so. Und das machte mich glücklich.

»Danke.«

»Eigentlich sollte das ja selbstverständlich sein.«

»Aber es kann manchmal schwer sein. Deswegen danke, dass du nicht einfach so weiter machst, wie es einfach ist, sondern einsiehst, dass du dich nicht so super benimmst und versuchst, dich zu bessern.«

»Dann gerne. Und zwar wirklich gerne.«

Mein Herz ging bei diesen Worten auf.

»Ich denke, ich sollte mir ein Beispiel an dir nehmen und das Offensichtliche auch einsehen. Dass ich etwas gegen dieses Kontrollding tun sollte. Und da ist dein Vorschlag wahrscheinlich nicht einmal so daneben«, gab ich schließlich zu. Es fühlte sich komisch an, das auszusprechen. Ich und Therapie? Ich kam mir sowieso schon immer anders als die anderen vor. Die Therapie würde das nicht gerade besser machen. Ich würde nicht nur ein seltsamer Außenseiter sein. Ich wäre dann ein seltsamer Außenseiter, der nicht einmal mit seinen eigenen Problemen klar kam.

»Ich denke, das ist die richtige Entscheidung. Du wirst es dir später danken. Da bin ich mir sicher. Und du solltest mal wieder etwas mit deinen Großeltern machen. Für sie war das auch ein großer Schicksalsschlag. Es war ein Unfall. Auch sie hatten das nicht gewollt.«

Mein Magen zog sich zusammen. Ich glaubte nicht, dass ich es schaffte, mich mit meinen Großeltern zu treffen.

»Aber das muss nicht sofort sein. Lieber langsam Schritt nach Schritt und jetzt nicht alles gleich überstürzen. Wie wäre es damit, wenn wir zusammen nach einem Therapeuten in der Nähe schauen und uns erkundigen, ob du zu dem gehen kannst? Oder willst du das lieber alleine machen?«

»Ich denke, du wärst mir dabei eine gute Hilfe.«

Zwei Stunden lang durchforsteten wir das Internet nach den passenden Therapiemethoden und Therapieplätzen, bis wir endlich erfolgreich waren. In zwei Wochen hatte ich ein Erstgespräch. Ich hatte gemischte Gefühle, wenn ich daran dachte. Einerseits war mir tief im Inneren bewusst, dass das der richtige Schritt war. Andererseits schämte ich mich dafür, eine Therapie zu brauchen. 

Wenn wir uns sehen könnenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt