Kapitel 5 - Juna

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Ich unterdrückte meine Tränen der Verzweiflung. Ich hatte das alles doch schon einmal gehört! Zumindest theoretisch. Warum fiel mir das nur immer noch so schwer? Wütend strich ich die Rechnung durch. So fest, dass mein Kuli das Papier zerriss. Aber es war mir egal. Noch eine halbe Stunde, dann fing Mathe an. Die letzte Stunde vor der ersten Prüfung. Ich hatte zwar noch das Ganze Wochenende zum Lernen, aber ob das half, das war definitiv nicht sicher. Waren meine Schlüssel eigentlich noch da? Meine Hand verschwand in meiner Tasche. Meine Finger umschlossen das kalte Metall des Haustürschlüssels. Natürlich, vor fünf Minuten war er es ja auch noch. Ich ließ ihn wieder los. Kontrollierte noch einmal, ob er wirklich da war und er aus Versehen nicht aus der Tasche gefallen war. Ja, er war da. Und er würde auch dieses Mal nicht einfach aus der Tasche fallen, nachdem ich es kontrolliert hatte. Trotzdem prüfte ich es noch einmal und wand mich schließlich wieder der Matheaufgabe zu. Ich raufte mir die Haare, als ich plötzlich eine Bewegung in dem Klassenzimmer wahrnahm. Ich schaute auf. Alenia kam unsicher auf mich zu. Was hatte sie vor? Sie war doch viel zu früh da! Ich wollte sie nicht noch länger in meiner Nähe haben, als es sein musste. Ich wollte die Zeit, die ich noch hatte, in Ruhe nutzen können. Ich seufzte. Hätte ich mich nur letztes Jahr mehr in Mathe angestrengt. Aber das war einfach nicht möglich gewesen. Trotzdem verfluchte ich mein altes Ich. Und mein zukünftiges Ich würde mich verfluchen, wenn ich jetzt nicht konzentriert Mathe weiter lernen würde.

»Alessa und Marielle haben gerade Französisch«, erklärte Alenia sich und setzte sich deutlich zögernd neben mich. Ich rutschte ein wenig zur Seite, damit sie mehr Platz hatte. Ich hatte mitbekommen, dass sie und ihre Freundinnen nicht viel von mir hielten. Genauer gesagt, hatte ich genau die verletzenden Worte gehört, die sie in meiner Nähe gesagt hatten. Was sie von mir sprachen, wenn sie alleine waren, wollte ich gar nicht erst wissen. Hatte Alenia nicht genug Freund*innen außer Alessa und Marielle, mit denen sie die Zeit verbringen konnte? Erst gestern hatte ich sie mit ein paar anderen aus unserer Klasse in der Pause zusammen stehen sehen.

Alenia holte ihr Handy aus ihrer Hosentasche und begann, sich durch irgendwelche Stories auf Instagram zu klicken, während ich mit meinem kläglichen Versuch, die Matheaufgabe zu lösen, weiter machte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie nun selbst ein Bild von sich machte und es sofort hochlud. Mit einem Filter, der für meinen Geschmack ziemlich unnatürlich war. Nun legte sie das Handy zur Seite und schaute kritisch zu mir. Instinktiv verdeckte ich mit meiner Hand einen Teil vom Geschriebenen und sah ertappt auf meinen Stift.

»Dir ist aber schon bewusst, dass du das vollkommen falsch machst?«

Röte schoss mir ins Gesicht und ich nickte. Alenia seufzte.

»Kein Wunder, dass du die Klasse wiederholen musstest.«

Autsch, das tat weh. Mathe war nie meine Stärke gewesen, dafür war ich in anderen Fächern wie Englisch gut. Jeder Mensch hatte seine Stärken und Schwächen. Alenia war doch sicherlich auch nicht überall so gut wie in Mathe. Trotzdem war ich früher in Mathe zumindest etwas besser gewesen, als ich es jetzt war. Das letzte Jahr war einfach nur schrecklich gewesen.

Alenia und ich schwiegen uns an. Alenia sah noch immer in meine Richtung. Ich starrte auf meine Rechnung. Ich wusste einfach nicht, wie ich die Aufgabe sonst lösen sollte. Aber mir war genauso bewusst, dass mein Rechenweg keinen Sinn ergab. Ich nahm meine Hand, die ich zum Verdecken genutzt habe, wieder weg. Sollte Alenia doch schauen. Ich würde die Zeit hier jetzt nicht weiter verplempern. Trotzdem arbeitete mein Gehirn noch viel schlechter unter dem Druck von Alenias Blick. Ich schrieb schnell irgendeinen nächsten Schritt für die Aufgabe auf, um beschäftigt zu wirken. Dabei war sogar mir beim Schreiben bewusst, dass der Ansatz komplett falsch war. Aber immerhin starrte ich so nicht unnötig auf das Blatt Papier.

»Ich kann mir das nicht weiter anschauen«, durchbrach Alenia die Stille und rückte zu mir. Sie beugte sich leicht über meinen Block. Ich wich ein Stück zurück. Plötzlich war sie mir viel zu nah. »Schau, das ist schon mal der komplett falsche Ansatz. Die Ableitung bringt dir hier nichts. Du musst mit dem Limes und mit f(x) arbeiten. Nicht mit der Funktion hier.« Alenia zeigte auf g(x), die ich kläglich versucht hatte, abzuleiten. »Auch, wenn du hier nicht ableiten musst, an sich ist deine Ableitung von der Funktion trotzdem falsch.«

Ich schämte mich. Alenia musste jetzt sicherlich denken, dass ich zu blöd für alles war. Ihre Meinung über mich besserte das sicherlich nicht. Ich sah schon vor mir, wie sie das später ganz im Detail ihren beiden Freundinnen erzählte.

Die nächste halbe Stunde erklärte mir Alenia geduldig die Aufgaben, doch als ihre beiden Freundinnen das Zimmer betraten, wich sie so schnell von mir, als hätte sie sich verbrannt. Das brachte mich ganz schnell wieder auf die Tatsache der Realität zurück. Ich mochte sie nicht. Sie mochte mich nicht. Niemand mochte mich hier. Auch wenn diese Gedanken für die letzten zwanzig Minuten nicht mal kurz aufgekommen waren. 

Wenn wir uns sehen könnenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt