Wenn wir uns sehen können

Kapitel 8 - Juna

Ungeduldig schaute ich zum wiederholten Mal auf die Uhr neben der Tafel. Noch zehn Minuten. Warum verging Englisch dieses Mal nur so zähend langsam? Normalerweise verflog die Zeit in diesem Fach für mich. Normalerweise mochte ich Englisch auch, aber dieses Mal konnte ich das Ende einfach nicht erwarten. Alenia hatte meinem absolut absurden Vorschlag wirklich zugestimmt. Das hätte ich niemals erwartet. Ich hatte ihr eigentlich nur mal etwas Gegenwind bieten wollen, weil mich ihre arrogante Art aufgeregt hatte. Aber nun würde sie mich gleich nach Englisch mit nach Hause begleiten und mir Mathenachhilfe geben. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Sie hatte mich heute noch kein einziges Mal beachtet. Sie hatte mich nicht mal eines Blicks gewürdigt, als ich direkt an ihr vorbei gelaufen war. Das hatte mich mehr aufgeregt, als ich zugeben wollte. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie die Nachhilfestunde heute schon vergessen hatte und es nur leeres Gerede von ihr war.

Wieder ein Blick auf die Uhr. Noch immer mehr als fünf Minuten. Das konnte doch nicht sein! Ich hatte die Hälfte der Stunde nicht einmal mitbekommen. Nun schrieb unser Lehrer irgendetwas an die Tafel. Ich versuchte, meine Konzentration darauf zu richten, was nur mäßig funktionierte. Ich wollte gerade einen Stift holen, um das Geschriebene abzuschreiben, dann erkannte ich, dass es nur die Hausaufgabe war. Irgendwelche Vokabeln lernen. Das konnte ich mir auch so merken.

Ich packte meine Sachen schon mal zusammen. Dann ließ uns unser Lehrer auch schon gehen. Fünf Minuten vor Stundenende, was für ein Glück. Die Zeit hätte sich sonst echt weiter noch gezogen. Ich warf einen Blick nah hinten, wo Alenia saß. Sie redete noch mit Marielle und Alessa. Sofort bereute ich mein hastiges Zusammenpacken. Wie konnte ich denn jetzt Zeit schinden, bis sie mit dem Gespräch fertig war? Wir hatten nicht ausgemacht, wo wir uns treffen würden, also musste ich wohl oder übel auf sie warten. Ich holte also mein Handy heraus und scrollte durch Instagram. Meine Lieblingscosplayerin hatte wieder ein neues Cosplay gepostet. Und es war verdammt gut! Es war Saber von dem Anime Fate/Stay Night . Ich vergrößerte das Bild und sah mir die Details an, die sie liebevoll gestaltet hatte. Sie hatte echt ein Talent dafür. Ich wollte irgendwann auch einmal ansatzweise so gut wie sie darin werden.

Jemand tippte mir auf die Schulter. Ich zuckte zusammen und sah Alenia vor mir, die mich von oben anlächelte. Alessa und Marielle waren anscheinend gegangen. Ich sah sie auf jeden Fall nicht mehr an ihrem Platz. Also packte ich mein Handy weg, zog mir meine Jacke über und kontrollierte noch einmal, ob das Handy sich auch wirklich in meiner Tasche befand. Danach suchten meine Finger nach dem Haustürschlüssel, der auch da war. Erleichtert atmete ich aus.

»Bereit für die anstrengendste Mathestunde, die du jemals in deinem Leben hattest?«

»Bereit für die anstrengendste Matheschülerin, die du jemals in deinem Leben hattest?«, konterte ich und prüfte noch einmal, ob ich mein Handy wirklich eingesteckt hatte und ob der Schlüssel noch da war. Alenia lachte leise auf. Es klang natürlich. Und viel besser als dieses gekünstelte Lachen, dass sie immer an den Tag legte, wenn sie mit ihren beiden Freundinnen unterwegs war.

»Ich muss mich mental erst noch darauf vorbereiten, aber ich denke, ich werde es zumindest überleben.«

»Das hoffe ich für dich. Ich will ja nicht, dass meine Nachhilfelehrerin direkt schon nach der ersten Stunde zusammenbricht.«

»Wir werden es sehen. Ich gebe mein Bestes, unter der schweren Last nicht umzukippen.«

»Das würde ich dir auch empfehlen.«

Alenia reagierte nicht weiter darauf. Stattdessen liefen wir gemeinsam aus dem Raum. Gemeinsam. Sie direkt neben mir.

»Ist dir das nicht peinlich, dass dich jeder hier neben mir sehen könnte?«