kapitel 1 - leah

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LEAH

Der Schock meines Lebens trifft mich an meinem letzten ersten Schultag.

„Wie bitte?" ich kann meinen Ohren nicht trauen, während meine Tasche langsam zu Boden sinkt.

„Es tut mir leid, Liebes." Meine Musik- und Chorlehrerin sieht mich mitfühlend an und tätschelt unbeholfen meine Schulter, in einem Versuch mich zu trösten, doch ich mache automatisch einen Schritt zurück, um ihrer Berührung zu entgehen.

Sofort überkommt mich ein schlechtes Gewissen, als sie die Hand zurückzieht, doch ich habe meine Reflexe gerade nicht unter Kontrolle.

„Ich kann es nicht fassen. Der Chor wurde einfach aufgelöst? Aber warum?" Meine Stimme klingt unsicher und schwach, doch das ist mir in diesem Moment egal. Meine Zukunftspläne zerfallen gerade zu Staub und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann.

„Der Schulleiter hat den Chor dieses Jahr als nicht wichtig genug angesehen. Leah, du bist mittlerweile fast die einzige zuverlässige Teilnehmerin." Erklärt Mrs. Brown und schüttelt enttäuscht den Kopf, während ich hastig die Tränen wegblinzele, die sich in meinen Augen sammeln.

„Es tut mir wirklich leid, ich weiß, wie wichtig dir das hier ist. Ich kann es ja auch kaum glauben." Sagt sie, doch ich kann nur verzweifelt den Kopf schütteln.

„Nein, Sie verstehen nicht..." Setze ich an, doch mir fehlen die Worte.

Es ist schwierig zu erklären, warum mir eine Kleinigkeit wie diese den Boden unter den Füßen wegreißt. Sie wird es nicht verstehen, niemand kann es verstehen.

Ich kann es selbst kaum in Worte fassen. Vielleicht, weil ich die letzten vier Jahre auf ein Stipendium hingearbeitet habe, das mir einen Platz an der besten Musikuniversitäten Amerikas sichern würde. Um das Stipendium zu erhalten, muss ich neben perfekten Noten auch fünf Jahre im Schulchor oder zumindest in einer anderen Art von musikalischem Club vorweisen, um mich auf Gesang spezialisieren zu können.

Ich schaue meinem Traum zu, wie er still und heimlich wie eine Seifenblase davonfliegt und schließlich zerplatzt, als habe es ihn nie gegeben.

„Tut mir leid, dass ich so emotional werde, Mrs. Brown. Es ist nicht ihre Schuld. Sie wissen ja bloß... mein Stipendium. Ich muss das erst mal verarbeiten." sage ich schnell und versuche mich wieder zu fassen, denn ich kann ihren mitleidigen Blick nicht länger ertragen. Ich kann ihr ansehen, dass sie darüber nachdenkt, mich zu umarmen, doch ich bin froh, dass sie es nicht tut, denn dann würde ich vermutlich wirklich anfangen zu weinen.

„Aber deine Eltern können dir doch sicher die Uni finanzieren?" fragt sie vorsichtig und ich beiße mir auf die Lippe. Könnten sie, ja. Problemlos.

Doch meine Eltern haben meinen unschuldigen Vorschlag, vielleicht Musik zu studieren, sofort abgelehnt. Als einzige Tochter einer Anwältin und eines Unternehmers habe ich eine Rolle zu spielen, und Musik gehört da definitiv nicht rein.

Meine bereits in Steingemeißelte Zukunft liegt entweder in einem Jura- oder Theologiestudium oderdarin die Firma zu übernehmen. Meine Familie ist nicht unbekannt in der Stadt. Im Gegenteil. Reich und privilegiert, wie wir sind kennt jeder unsere Gesichter. Meine Eltern sind in der Kirche bekannt, in die wir jeden Sonntag gehen. Auch in der Stadtverwaltung kennt man als wichtige Investoren unseren Namen.

Die Kingsteens haben überall ihre Finger mit drin.

Ich schüttele den Kopf.

„Das ist leider keine Option."

Ich will mir gar nicht erst ausmalen, wie wütend meine Eltern sein werden, wenn sie erfahren, dass ich nicht länger im Chor singe. Natürlich haben sie es immer gerne gesehen, wenn ich ein Solo bekommen habe und bei der Schulaufführung ganz vorne stand. Doch unterstützen würden sie meinen Traum nur, solange er ihr perfektes Bild von der perfekten Tochter, der perfekten Familie aufrechterhält.

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