kapitel 43 - leah

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LEAH

Es ist dunkel, wo auch immer ich bin. Ich blinzele, versuche mich zu orientieren und ertaste den weichen Stoff einer Decke. Ich liege in einem Bett.

„Dominic?" flüstere ich in die Dunkelheit, doch abgesehen von einem konstanten leisen Piepen ist alles still. Keine Antwort. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Ich bin allein.

Meine Augen gewöhnen sich allmählich an die Dunkelheit und ich erkenne die Umrisse eines Stuhls, der an der Wand steht. Ich blicke mich langsam um, mein Kopf ist schwummrig und dröhnt, aber ich muss herausfinden, was passiert ist.

Ich greife nach der piependen Maschine neben mir und drücke wahllos einen Knopf und zu meiner Erleichterung flammt ein kleines Licht auf. Ich bin in einem Krankenhaus. Und mit dieser Erkenntnis brechen plötzlich Erinnerungen über mich herein, die ich nicht ganz orten kann. Das Konzert und meine Eltern, Dominic der meinen Vater verprügelt hat, die Polizei, mein Kopf, der gegen die Scheibe knallt, und dann der Unfall. Vorsichtig ertaste ich die Beule an meinem Kopf und presse die Lippen zusammen.

Auf einmal kämpfe ich mit den Tränen. Ich fühle mich vollkommen orientierungslos, ich bin alleine in der Dunkelheit in einem stillen Krankenhauszimmer, ich habe keine Ahnung, wo Dominic und die Jungs sind, was mit meinen Eltern ist und was passieren wird. Ich bin völlig allein. Ich beiße mir auf die bebende Unterlippe und unterdrücke ein Schluchzen.

Ich kann nur hoffen, dass die Jungs vor der Polizei fliehen und entwischen konnten. Aber was, wenn sie verhaftet wurden? Meine Gedanken rasen. Meine Eltern werden mich umbringen. Vielleicht sogar wirklich. Mein Vater ist unberechenbar und meine Mutter nutzlos.

Sie hat geschrien, als Dominic auf meinen Vater losgegangen ist. Dabei hat sie nicht mal geschrien, als er mich zum ersten Mal geschlagen hat. Sie hat einfach nur zugeschaut und nichts gesagt. Nicht mal ein Wort war ich ihr wert.

Ich wische mir eine Träne weg. Sie fließen stumm über meine Wangen und ich versuche, sie zurückzuhalten, aber es gelingt mir nicht. Es ist vorbei. Ich habe alles verloren. Ich habe ihn verloren, denn meine Eltern werden dafür sorgen, dass ich ihn nie wieder sehe. Der Gedanke ist nicht zu ertragen und ich presse eine Hand auf meinen Mund, um die Schluchzer zu ersticken, die mich auf einmal durchschütteln.

Ich ziehe die Decke weiter hoch, um mich darin einzuwickeln. Ich brauche ein bisschen Wärme, das Gefühl, von Armen gehalten zu werden. Vielleicht kann ich wenigstens für einen Moment so tun, als würde irgendwie alles gut werden.

Aber plötzlich ertaste ich etwas, das mich innehalten lässt. Meine Hände schließen sich um eine Schachtel, die aus irgendeinem Grund am Rand meines Bettes liegt, versteckt unter der Decke. Verwirrt nehme ich die kleine, dunkelblaue Pappschachtel in die Hand und als ich sie mir genauer anschaue, stockt mir der Atem.

Es ist eine kleine Schachtel Smarties.

Meine Augen weiten sich und ich blinzele. Sind es die Medikamente, die meine Sicht benebeln? Wie kommen die Süßigkeiten hier her, zu mir, in mein Bett?

Mein Blick bleibt an dem Fenster hängen, das zwar zugedrückt ist, aber der Griff ist nicht ganz unten. Mein Herz fängt an zu rasen. Smarties. Das kann nur eins heißen.

Erleichterung überkommt mich mit so einer Wucht, dass ich einen zitternden Atemzug nehme. Er ist in der Nähe, nicht in irgendeinem Gefängnis oder in Untersuchungshaft.

Als ich das nächste Mal die Augen öffne, ist es hell. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich wieder eingeschlafen bin, aber ich wache auf, als ein Arzt in weißem Kittel in mein Zimmer kommt.

„Guten Morgen, Miss Kingsteen." Begrüßt er mich. Seine Haare sind leicht grau, er trägt eine schwarze Brille und zahlreiche Lachfalten zieren sein Gesicht. Er wirkt sympathisch, doch ich verschränke sofort die Arme und verspanne mich. Ich kann niemandem trauen.

„Wie fühlen Sie sich? Irgendwelche Schmerzen?" will er wissen und setzt sich neben mich, ehe er die Hände faltet und mich aufmerksam anschaut.

„Mein Kopf tut weh und mir ist schwindelig, aber sonst ist alles okay, glaube ich." Antworte ich schlicht und er nickt zufrieden, ehe er sich etwas auf sein Klemmbrett schreibt.

„Ich bin Doctor Armstrong." Stellt er sich dann vor und reicht mir die Hand, die ich zögerlich nehme.

„Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung erlitten, sowie ein paar Prellungen am Arm und an den Rippen. Zusätzlich eine Kopfverletzung, aber die haben wir mit drei Stichen genäht. Nichts Dramatisches. Sie hatten verdammt viel Glück." Erklärt er mir mit einem beruhigenden Lächeln und ich schlucke schwer, ehe ich kurz meinen Kopf betaste. Das war kein Unfall.

Ich schaue in seine freundlichen braunen Augen und für einen Moment überkommt mich das intensive Bedürfnis, ihm alles zu erzählen. Mich ihm anzuvertrauen und meine Situation zu erklären, ihm die Fotos zu zeigen, die ich über die Jahre dokumentiert habe.

„W-wo ist mein Handy?" frage ich mit kratziger Stimme und er wirkt ein wenig überrascht, greift jedoch in seinen Kittel und befördert mein Handy ans Tageslicht. Der Bildschirm ist gesprungen und ich kann nur hoffen, dass es noch geht.

„Das wollte ich dir eh geben. Hier, bitteschön."

„Vielen Dank." Ich zwinge mich zu lächeln und nehme das Handy an mich, lege es unter die Decke, damit es mir niemand wegnehmen kann. Die Dinge, die darauf zu finden sind, sind zu wichtig. Sie können Leben zerstören.

Plötzlich fällt mir auf, dass sich jede normale Tochter nach ihren Eltern erkundigen würde, also räuspere ich mich schnell und frage nach.

„Deinen Eltern geht es so weit gut, den Umständen entsprechend. Ihr hattet wirklich Glück, das kann ich euch sagen. Ich weiß ja nicht, was du für einen Schutzengel hattest, aber er hat saubere Arbeit geleistet." Sagt Doctor Armstrong und schenkt mir ein kleines Lächeln, das meine Unterlippe schon wieder zittern lässt.

„O-okay. Danke."

„Leah, ist alles in Ordnung bei dir?" fragt er dann und schaut mich an. Plötzlich bin ich verunsichert. Warum fragt er mich so ausdrücklich? Er schaut mich ans als könnte er durch meine Seele blicken, ein Ausdruck liegt in seinen brauen Augen, den ich nicht ganz deuten kann. Und ich will erzählen, was passiert ist, unbedingt. Er wirkt so vertrauenswürdig und freundlich, dass ich den Impuls kaum unterdrücken kann, doch ich beiße mir auf die Zunge.

Ich kann nicht. Niemand wird mir glauben.

Als Doctor Armstrong verschwindet, zögere ich keine Sekunde und schalte mein Handy ein. Meine Schultern sinken herab vor Erleichterung, als es angeht. Mit zitternden Händen öffne ich meine Galerie und tippe auf den Ordner, den ich „Schule" genannt habe, um keinen Verdacht zu erregen, falls sie mir mein Handy wegnehmen. Ich darf kein Passwort haben, aber ich kann zumindest versuchen, die Dinge zu verstecken, die ich geheim halten muss. Doch als ich den Ordner öffne, stockt mein Herz.

Der Ordner ist leer. Kein einziges Bild ist mehr da und mir entkommt ein entsetztes Keuchen. Nein, das kann nicht sein. Ich habe irgendetwas falsch gemacht, mein Kopf ist noch benebelt von den Schmerzmitteln. Ich hatte über fünfhundert Bilder in diesem Ordner, sie können nicht einfach weg sein.

Mein Herz rast und meine Luftröhre verengt sich, während ich hektisch mein Handy durchsuche. Aber ich finde die Bilder nicht. Sie sind einfach weg. All die Beweise, die ich mein Leben lang gesammelt habe, in einem verzweifelten Versuch vielleicht irgendwie aus diesem Albtraum zu entfliehen, den ich mein Leben nenne.

Sie wurden gelöscht.

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