kapitel 19 - leah

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LEAH

Manchmal wünsche ich mir, mein Vater wäre Alkoholiker.

Das ist ein schrecklicher Gedanke, das weiß ich. Aber vielleicht würden seine Wutausbrüche dann nicht ganz so sehr wehtun. Vielleicht könnte ich es besser ertragen, wenn ich den Grund wüsste. Könnte mir einreden, dass er es gar nicht so meint, dass er mich liebt und dass der Alkohol ihm die Kontrolle nimmt. Dass er nicht bei klarem Verstand ist, wenn er die Entscheidung trifft, mich gegen die Wand zu schlagen.

Als Dominic mich wie immer ein paar Häuser vorher absetzt und ich schließlich vor der Tür stehe, ist es ungefähr ein Uhr nachts. Wir haben noch ein wenig Zeit mit den Leuten verbracht, Jackson hat uns präsentiert, dass er einen Shot trinken kann, ohne seine Hände zu benutzen, aber dann sind wir wieder verschwunden. Ich habe mich sicher gefühlt.

Zu sicher.

Denn als ich durch die Hintertür das Haus betrete und still und leise durch den Flur schleiche, geht plötzlich ein Licht an.

Ich erstarre, als ich Schritte höre und ein schreckliches, schweres Gefühl macht sich in mir breit, als ich die große Gestalt meines Vaters sehe, der um die Ecke kommt. Er bleibt stehen und für einen Moment schauen wir uns einfach nur an.

Es ist so furchtbar still, ich wünschte, er würde irgendetwas sagen. Mich anschreien. Aber ich kann nur warten.

„Wo warst du." Ist alles, was er sagt und ich überlege fieberhaft nach einer Ausrede, ich kann nicht erklären, warum ich ein richtiges Outfit trage.

„Ich- ich war bei Cara." Bringe ich hervor, weil mir nichts Besseres einfällt. Ich habe zwar nicht viel mit Cara zu tun, sie geht in meine Stufe, aber manchmal treffen wir uns zum Lernen.

„Wir haben uns mo-molekulare Genetik angeschaut." Schiebe ich hinterher, jetzt schon atemlos vor Angst. Er sagt nichts. Stattdessen tritt er näher, so nah, dass ich seinen Atem spüre. Mein Herz rast. Ich will zurückweichen, aber ich kann nicht.

„Ich habe mich schon gefragt, wann du zurückkommst." Sagt er und mir läuft es kalt den Rücken runter. Was ein normaler Satz sein könnte, hat aus seinem Mund eine ganz andere Wirkung. Da liegt keine Erleichterung, keine Besorgnis in seiner kühlen Stimme. Wann hat er gemerkt, dass ich verschwunden bin? Wie lange sitzt er schon da und wartet darauf, mich abzufangen? Wie lange kocht seine Wut schon?

Mein Atem beschleunigt sich und es fühlt sich ganz anders an als vorhin bei dem Autorennen. Ich spiele mit meinen Händen und überlege hektisch, wie ich die Situation deeskalieren könnte, dabei weiß ich genau, ich kann nichts tun.

Trotzdem bin ich überrascht, als mein Kopf plötzlich zur Seite fliegt und ich für einen Moment schwarz sehe. Ich verbeiße mir einen Ton und presse automatisch die Hand an meine Wange, doch er reißt sie runter und schlägt ein zweites Mal zu.

Sein Ehering trifft mich an der Schläfe und ein stechender Schmerz schießt durch meinen Kopf, während ich rückwärts taumele, blind nach irgendetwas greife, woran ich mich festhalten kann. Ich versuche nicht mal, mich zu verteidigen. Es hat keinen Zweck.

„So läuft das nicht, Leah." Knurrt er und schubst mich zurück. „Du sagst uns, wo auch immer du hingehst. Und schon gar nicht bleibst du bis nachts weg."

Er schubst mich ein weiteres Mal und ich verliere in der Dunkelheit das Gleichgewicht und falle zu Boden.

„Ist das klar?" zischt er und verpasst mir einen Tritt in die Seite, der mir die Luft nimmt.

„Ja." Keuche ich und versuche mich aufzurappeln, aber er tritt ein zweites Mal zu, noch fester und dieses Mal trifft er meine Rippen.

Stechender Schmerz durchfährt meine Seite und ich schnappe nach Luft. „Es tut mir leid." Bringe ich hervor und krümme mich. Tränen brennen in meinen Augen, doch ich lasse nicht zu, dass sie überlaufen. Erst als ich höre, wie sich seine Schritte entfernen und er in seinem Schlafzimmer verschwindet, rolle ich mich langsam auf den Rücken und bleibe einfach liegen, versuche zu atmen.

Der Schmerz ist so scharf, dass er mir die Luftröhre zuschnürt. Jeder Atemzug ist kaum zu ertragen und ich halte mir die Hand vor den Mund, um mein Schluchzen zu unterdrücken.

Alles tut weh. Ich kann mich nicht bewegen, also bleibe ich einfach auf dem Boden liegen und konzentriere mich aufs Atmen, während der Schmerz langsam erträglich wird. Tränen laufen unkontrolliert über meine Wangen und tropfen auf den Boden neben mir, aber ich habe keine Kraft, sie länger zurückzuhalten. Genau genommen habe ich gar keine Kraft mehr, irgendetwas zu tun.

Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Boden liege und leise schniefe, aber irgendwann schaffe ich es, mich langsam aufzurichten. Schließlich stehe ich auf zitternden Beinen und mühe mich die Treppe hinauf. Meine Hände beben, aber ich schaffe es, geschickt die Tür abzuschließen, während ich die Klinke herunterdrücke, damit niemand hört, dass ich mich eingesperrt habe. Er mag es gar nicht, wenn ich das tue.

Mechanisch schäle ich mich aus meinem gelben Kleid und ziehe einen Schlafanzug an, ehe ich vorsichtig meine Rippen betaste. Die Haut ist gerötet und tut jetzt schon bei der kleinsten Berührung weh, ich will mir gar nicht vorstellen, wie sie morgen aussehen wird. Ich kann nur hoffen, dass keine meiner Rippen gebrochen sind.

Ich mache ein paar halbherzige Fotos zur Dokumentation, spare es mir jedoch, mein Gesicht abzuchecken. Das würde ich mir spätestens morgen früh genauer anschauen, wenn ich die Verantwortung für seine Taten übernehme und die Spuren seiner Gewalt mit Makeup überdecke.

Und als ich mich ins Bett lege und gerade mein Handy zur Seite legen will, poppt eine Nachricht auf dem Bildschirm und Dominics Name auf, und für einen kleinen Moment bin ich abgelenkt.

Dein erstes Konzert ist diesen Mittwoch.

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