Kapitel 5

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Nachdem ich mich bei Max verabschiedet und ihm versprochen hatte, dass ich bald in Berlin bei ihm vorbeischauen würde, liefen Raphael und ich zu meinem Auto. Obwohl wir uns erst vor ein paar Stunden kennengelernt hatten, nach unserem Gespräch auf dem Dach der Veranstaltung fühlte ich mich auf eine seltsame Art und Weise bei ihm wohl. Er war mir ähnlicher, als ich es im ersten Moment erwartet hätte und hatte einen ähnlich bescheuerten Humor, obwohl er so ernst wirkte.

Ich drückte auf meinen Autoschlüssel und ein paar Meter vor uns gingen die Lichter meines Wagens an.

„DAS ist dein Auto? Und du findest mich abgehoben?", fragte er mich mit einem Grinsen im Gesicht, als er den schwarzen Mercedes sah, die Beifahrertür öffnete und sich hineinsetzte.

„Mit irgendwas muss ich ja auch übertreiben und ich dachte mir, wenn, dann beim Auto.", schmunzelte ich und schnallte mich an. Als ich den Motor startete lief meine Musik leise im Hintergrund und ich fuhr auf die Straße. Ich bemerkte sehr wohl, dass Raphael mich von der Seite beobachtete. Nach der kurzen Situation auf dem Dach, hatte sich die Stimmung zwischen uns aufgeladen, aber ich hatte nicht vor darauf einzugehen. Als ich an einer Ampel hielt, wandte ich mich ihm zu.

„Also Raphael, wo soll ich dich hinfahren?"

„Bist du schon müde, willst du direkt nach Hause?"

„Billiger Versuch Ragucci, von zwei Mal tief in die Augen gucken bekommst du mich nicht in dein Bett."

Ich sah ihn lachen, die Ampel schaltete auf grün, ich drehte mich von Raphael weg und fuhr weiter.

„Das war kein billiger Versuch. Aber unser Gespräch vorhin hat mich auch interessiert und ich bin noch lange nicht müde. Deshalb musst du mich entweder zu meinem Studio fahren oder wir fahren zum Kahlenberg und unterhalten uns da weiter."

Erstaunt über sein Angebot überlegte ich kurz.

„Kahlenberg? Ganz schön spezielle Anfrage."

„Ich hab da früher öfter mit meinen Jungs herumgehangen, das war immer unser Platz, ich mags da.", gab er ruhig zurück.

„Dein Glück, dass ich noch eine Jacke im Auto hab.", antwortete ich ihm und ordnete mich auf der Linksabbiegerspur ein, die uns Richtung Kahlenberg bringen würde.

15 Minuten später erreichten Raphael und ich den Aussichtspunkt. Ich holte meine Jacke aus dem Kofferraum und hakte mich bei ihm ein.

„Ich war noch nie hier", sprach ich leise. Die Stimmung hier, mit Blick über ganz Wien, hatte etwas wahnsinnig beruhigendes.

„Noch nie?! Ich hab hier schon oft meinen Kopf freibekommen können."

„Glaub ich dir, ist wirklich schön."

Wir setzten uns nebeneinander auf die Bank, die am Rand der Plattform stand und genossen den Augenblick.

„Früher wollte ich immer weg aus Wien. Ich hab mir vor ein paar Jahren ein Haus in Barcelona gekauft. Ich wollte einfach nur raus aus dieser Stadt mit den unfreundlichen Leuten und dem kalten Winter. Aber nach ein paar Wochen bin ich zurückgekommen. Ohne Familie und deine Freunde kannst du jeden Tag 30 Grad und Sonne haben, das bringt dir dann auch nichts.", öffnete sich Raphael. Seine Hände hatte er in seiner Jackentasche vergraben, seinen Blick auf die Stadt gerichtet und wirkte in Gedanken versunken.

„Am Ende halten einen Familie und Freunde in einer Stadt. Für alles andere kann man Urlaub machen, aber auf Dauer wird man nicht glücklich dort.", antwortete ich ihm.

„Also geht es für dich auf Dauer wieder nach Berlin?", fragte er und richtete seinen Blick auf mich.

Ich wich ihm aus und schaute auf den Boden. Dieses Thema war keins, über das ich gerne sprach. Der Schmerz darüber saß noch immer zu tief und diese Wunde öffnete ich nicht für jeden, erst recht nicht für jemanden, den ich seit 4 Stunden kannte und der in der Öffentlichkeit nicht grade das vertrauenswürdigste Bild abgab mit seinem Image. Doch irgendetwas an ihm gab mir das Vertrauen, dass ich mich ihm öffnen könnte; die Art, wie wir miteinander reden konnten nach so kurzer Zeit und dass er sich mir genau so öffnete, vielleicht.

„Ich hab hier mittlerweile einen Freundeskreis, dem ich komplett vertraue und der für mich so etwas wie Familie ist. In Berlin hält mich mittlerweile nicht mehr viel."

Statt nachzubohren blieb Raphael still. Er schaute mich aufmerksam mit seinen im Schatten seiner Cap liegenden, dunklen Augen an und strahlte dabei eine Ruhe aus, die mir das Gefühl gab, es wäre in Ordnung, wenn ich weiterrede.

„Als ich nach Wien kam, war ich in einer langjährigen Beziehung. Mein damaliger Freund hatte mich auf meinem Weg immer unterstützt, er war bei jedem Schritt meiner Karriere an meiner Seite. Aber weil er in Berlin gearbeitet hat, hatten wir von da an eine Fernbeziehung. Ich dachte, es läuft trotzdem gut, wir sahen uns alle zwei Wochen spätestens, ich kam ein Mal im Monat nach Berlin. Meine Schwester und meine Eltern lebten auch noch in Berlin, deshalb sah ich sie dann auch noch regelmäßig. Aber an einem Abend hat mein Handy ziemlich spät noch geklingelt. Meine Schwester war dran und hat mir erzählt, dass unsere Eltern bei einem Autounfall beide ums Leben gekommen sind. Geisterfahrer auf der Autobahn, frontal rein, direkt tot."

Ich hörte Raphael neben mir laut einatmen. Die Geschichte zu erzählen wühlte mich auch auf, aber ich hatte mich daran gewöhnt, sie möglichst direkt und ungeschönt zu erzählen.

„Ich bin noch in der Nacht nach Berlin gefahren. Ich stand komplett unter Schock und war so schnell da wie nie wieder. Ich kann mich im Nachhinein nicht an die Fahrt erinnern,. Dann bin ich in die alte Wohnung von mir und meinem Ex, wo wir vorher zusammen gewohnt hatten. Ich mach die Tür auf und gehe ins Schlafzimmer, um ihn zu wecken und ihm zu erzählen was passiert ist. Naja, er lag da nicht allein.", schließe ich.

„Fuck.", ist alles, was Raphael rausbrachte. „Was ist das für eine große Scheiße? Und was ist er für n Piç?"

Wir schwiegen kurz und ich merkte, dass niemand so richtig wusste, was er sagen sollte.

„Wie überlebt man das?", fragte Raphael mich schließlich nach ein paar Augenblicken, fast flüsternd. Und genau das fragte ich mich seit zwei Jahren auch.

„Keine Ahnung. Ich weiß es bis heute nicht. Aber ich weiß jetzt, auf wen ich zählen kann und auf wen nicht. Und dass mich eigentlich nichts mehr an Berlin hält, nur meine Schwester, aber sie hat auch ihre eigene Familie mittlerweile.", sprach ich. "Das war vor ziemlich genau 2 Jahren und irgendwie findet man seinen Weg damit umzugehen. Manchmal tut es weh zu wissen, dass meine Eltern das alles nicht mehr sehen, was ich erreiche und dann frage ich mich, wofür ich es dann mache." 

"Ich bin mir sicher, von irgendwo sehen sie es und sind wahnsinnig stolz, dass du weiter machst.", sprach Raphael. Ich lächelte ihm leicht zu und senkte meinen Blick wieder auf die Stadt vor uns. 

Es war ungewöhnlich für mich, dass ich mich jemandem so anvertraute und von mir aus über so etwas sprach. Normalerweise brauchte ich dafür bestimmt ein paar Monate. Aber es fühlte sich auch jetzt nicht falsch an, wo es ausgesprochen war. 

"Hast du eine große Familie?", fragte ich ihn, um nicht ewig in dieser Stimmung hängen zu bleiben. 

"Hier in Wien nicht wirklich. Meine Mutter, meine Schwester, ihr Mann und ihr Sohn wohnen im gleichen Haus wie ich. Mein Opa ist vor ein paar Jahren verstorben und der Rest meiner Familie lebt in Italien. Ich besuche sie ein Mal im Jahr.", antwortete er. "Eigentlich hatte ich immer vorgehabt, in meinem Alter längst eine eigene Familie zu haben, verheiratet zu sein und mindestens 3 Kinder zu bekommen.", sprach er mit einem leichten Seufzen. 

"Aber? An Angeboten Kann es ja sicher nicht mangeln."

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