Kapitel 18

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Marlene

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, bemerkte ich, dass ich noch immer auf Raphaels Brust lag. Es war selten, dass er noch da war, wenn ich aufwachte; meistens war er schon beim Sport oder frühstückte. Uff, eigentlich sollte ich so etwas garnicht wissen von jemandem, mit dem ich platonisch befreundet sein wollte. Mit einem leisen Seufzen drehte ich mich von Raphael weg auf den Rücken und starrte an die Decke. Von meiner Bewegung war auch er aufgewacht. Er drehte sich zu mir um und strich mir ein paar verwirrte Haare aus dem Gesicht, bevor er seinen Arm über meinen Bauch legte.

„Morgen, ma beauté."

„Guten Morgen, Rapha. Du hast ganz schön lang geschlafen heute.", gab ich ebenso leise zurück, wie es von ihm kam.

„Ich schlaf halt gut neben dir."

Eine Weile lagen wir einfach so da. Niemand sagte etwas, ich strich gedankenverloren über seinen Arm und bemerkte, dass er mich von der Seite betrachtete.

Was eine absurde Situation. Wir hatten uns auferlegt, uns nicht mehr näher zu kommen und waren uns seitdem näher als je zuvor. Trotzdem gab es eine unsichtbare Linie, die keiner von uns als Erstes überschreiten wollte; stattdessen gaben wir uns der Illusion hin, dass wir den nötigen Abstand wahren würden. Dass dem, zumindest für mich auf emotionaler Ebene, nicht so ist, habe ich erst gestern wieder spüren müssen. Mir war durchgehend bewusst, dass wir nie etwas Exklusives waren. Ich hatte sogar den Kontakt beenden wollen, weil ich damit nicht umgehen konnte. Aber mitzubekommen, dass er Affären hatte, wie er es nannte, war nochmal etwas anderes. Etwas, womit ich klarkommen musste, aber etwas, was mich seit gestern Abend nicht losließ.

„Rapha?"

„Mhm?"

„Wie läuft das ab? Mit dir und den Frauen, die du triffst?"

Er atmete tief aus, zog den Arm von meinem Bauch und setzte sich neben mir etwas auf.

„Muss das sein, Marlene?"

„Tut mir leid.", murmelte ich. Es war masochistisch von mir, hören zu wollen, wie er sich mit diesen Frauen verhielt. Und ein Gespräch darüber überschritt tatsächlich um Weiten unsere ‚freundschaftliche' Beziehung.

„Ich hab' gestern Abend schon bemerkt, dass dich das alles nicht so kalt lässt, wie du tust. Willst du wirklich, dass ich jetzt weiter darüber rede?"

Ich wusste nicht, wie wir in dieser Situation gelandet waren. Raphael und ich redeten offen über alles, er erzählte mir ohne zu zögern von seiner Jugend, seiner Familie, seinen tiefsten Ängsten; ich tat das Gleiche bei ihm. Aber seit dem Gespräch auf meinem Balkon hatte keiner von uns mehr etwas angesprochen, was mit möglichen Gefühlen für den anderen zu tun hatte. Dass er so offen ansprach, dass er merkte wie sehr es mich verletzte, wenn er andere Frauen traf, brachte eine gewisse Verletzlichkeit in die Situation, die wir bisher gemieden hatten.

„Ich will dich verstehen lernen, Raphael. Zu hundert Prozent und nicht nur zu 90."

Ein weiteres Seufzen kam aus seinem Mund.

„Du kennst die Geschichte von mir und meiner Ex und von unserer Trennung. Davor und in dieser Beziehung war alles anders. Aber mit der Trennung war mir alles genommen worden, was mich noch an meinem alten, an meinem normalen Leben gehalten hat. Und dann war da nicht nur der Erfolg, sondern auch die Frauen. Und ich wollte Vendetta für mein altes Leben, für alles. Ich hab mir genommen was ich wollte; drei, vier oder fünf Frauen an einem Tag, auf einmal. Das weißt du auch. Irgendwann haben mich meine Freunde und meine Familie wieder zurück auf den Boden geholt und ich habe realisiert, wie weit ich mich von mir selbst entfernt hatte und dass ich das, was ich da monatelang gemacht habe, nicht mehr weiterführen wollte. Ich wusste aber auch, dass ich keine Beziehung führen kann, so wie ich lebe. Ich bin verheiratet mit der Musik, mit niemandem sonst. Also habe ich mich für den Mittelweg entschieden. Ich habe angefangen etwas festere Affären zu führen, mich mit einer Frau öfter zu treffen und nicht jede Woche mit einer Neuen. Diese Frauen habe ich auf irgendwelchen Veranstaltungen kennengelernt oder Partys. Sie wissen von Anfang an woran sie sind; dass es niemals eine Beziehung gibt. Alle paar Wochen treffen wir uns, gehen essen, manchmal kaufe ich ihnen etwas; eine Tasche oder Schuhe. Danach schlafen wir miteinander, aber sie schlafen nie bei mir, wir gehen in ein Hotel. Es gibt keine persönliche Beziehung, nur das, wofür wir uns treffen.", beendete Raphael seinen Monolog. Ich wusste nicht, wie ich das, was ich selbst heraufbeschworen hatte, verdauen sollte, aber merkte, dass er meinen Blick suchte und so richtete auch ich mich auf, um ihm in die Augen sehen zu können. Sein Blick war undurchdringbar und ich merkte, dass ihm nicht wohl war bei dem Thema.

„Was gibt dir das, Raphael?", fragte ich vorsichtig.

„Sex.", gab er stumpf zurück. „Sex und nicht mehr. Diese Frauen wollen nur mein Geld und meine Aufmerksamkeitr. Und ich bekomme eine unkomplizierte Affäre ohne Verpflichtungen. Für mehr ist kein Platz, so lange ich so arbeite, wie ich es gerade tue."

„Willst du nicht irgendwann heiraten, Familie haben?"

Auf Raphaels' Gesicht schlich sich ein schiefes Grinsen.

„Doch. Seit über zehn Jahren. Mindestens genau so sehr will ich das, wie ich das mit der Musik wollte. Aber ich hab mich für letztere entschieden. Also bekomme ich nun entweder nur eins von beidem oder irgendwann schaffe ich es, einen Weg zu finden, der beides möglich macht; auch Familie. Wenn es dann noch nicht zu spät ist."

Ich wusste nicht, was ich dem noch hinzufügen sollte, weshalb ich Raphael lediglich einen Kuss auf die Schulter gab und mich dann an diese anlehnte.

„Zerbrich dir nicht den Kopf über sowas, ma beauté. Keine von denen bekommt so viel von mir, wie du es hast.", sagte er und gab mir einen Kuss aufs Haar.

Noch einige Minuten saßen wir so beieinander, bis wir beschlossen, dass wir nicht weiterkommen würden an dieser Stelle. Wir wussten, wir befanden uns in einer Sackgasse. Stattdessen machte Raphael das Frühstück in der Küche, während ich mich im Badezimmer fertig machte.

Gerade, als ich aus diesem heraustreten wollte, hörte ich, dass es an der Wohnungstür klingelte. Raphael hatte mir gegenüber nicht erwähnt, dass er Besuch erwartete, weshalb ich davon ausging, dass es lediglich der Postbote sein würde.

„Onkel Raf!"

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