Marlene
Frohe Weihnachten, chérie.
Der Abend war gerade am Ausklingen, als mein Handy vibrierte. Heiligabend verbrachte ich wie immer bei meiner Schwester, ihrem Mann und deren Sohn in Berlin. Während der Kleine noch mit seinen neuen Spielsachen unter dem Baum saß, lagen wir Erwachsenen mehr oder weniger komatös auf dem Sofa, mit vollen Bäuchen und ein wenig schwerem Kopf vom Glühwein.
Als ich die Vibration meines Handys spürte und das Display umdrehte, dachte ich für einen kurzen Moment, dass die letzte Tasse vielleicht zu viel gewesen wäre. Aber die Nachricht von Raphael ging nicht weg, egal wie oft ich blinzelte.
Ich hatte generell nicht mehr mit einer Nachricht von ihm gerechnet, erst recht aber nicht heute. Nach dem Abend in Wien hatte er sich nicht mehr gemeldet und ich konnte es ihm nicht übel nehmen, so unkommentiert und plötzlich wie ich damals abgehauen war. Erst im Taxi war mir bewusst geworden, dass unsere gemeinsame Zeit mit meiner Entscheidung zu gehen beendet, unser Kartenhaus zusammengefallen war. An diesem Tag war mir klar geworden, dass ich bereits viel zu tief drin steckte, um weiter so zu tun, als würde mir diese Fake-Freundschaft zwischen uns nichts ausmachen. Ganz automatisch hatte sich die Mauer um mein Herz, die ich mir in den letzten Jahren zugelegt hatte, wieder aufgerichtet und dafür gesorgt, dass ich Raphael sogar mehr oder weniger gut aus meinem Kopf verdrängt hatte. Hätte ich das nicht, hätte ich ihn vermisst.
Vermutlich lag es daran, dass ich angetrunken war, doch nur wenige Sekunden nachdem die Nachricht überhaupt angekommen war, stand ich vom Sofa auf.
„Bin kurz auf dem Balkon.", murmelte ich in die Richtung meiner Schwester.
Raphael
Gerade als ich die Kippe ausdrücken und wieder reingehen wollte, begann mein Handy in meiner Hosentasche zu vibrieren. Und es hörte nicht mehr auf. Als ich es herauszog sah ich, dass Marlene mich anrief; in meiner Schockstarre hatte ich keine Zeit darüber nachzudenken, sondern nahm den Anruf einfach entgegen.
„Marlene.", sprach ich ungläubig.
„Rapha.", gab sie zurück. Selbstsicher, wie ich es gewohnt war. „Danke. Dir auch frohe Weihnachten."
„Merci."
Stille übernahm das Telefonat, weil keiner wusste, worüber wir reden sollten. Es gab tausend ungesagter Dinge zwischen uns, doch das war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Und auch Marlene schien sich nicht überlegt zu haben, warum sie mich anrief.
„Bist du bei deiner Schwester? In Berlin?", fragte ich deshalb.
„Ja. Wien oder Dubai?"
„Wien, bei meiner Schwester."
„Bestell ihr liebe Grüße, Rapha."
„Mach ich. Warum rufst du an Marlene?"
„Warum hast du geschrieben?"
Wieder breitete sich Stille aus. Ich spürte den Druck auf meiner Brust, genau wie eben beim Gespräch mit meiner Schwester. Ich hatte immer gesagt, irgendwann würde eine Frau kommen, die mein Herz auftauen würde. Aber dass es sich dann so schmerzhaft anfühlen würde, wenn es wieder hervorkam, hatte ich nicht eingeplant.
Ich hatte das Gefühl, ehrlich zu ihr sein zu müssen, wenn ich es schon lange nicht zu mir selbst gewesen war.
„Weil du mir fehlst."
„Ich wollte deine Stimme hören.", gab sie mir nach einer kurzen Pause auf meine eigentliche Frage zurück.
Ich hörte ihr Seufzen.
„Wo bist du gerade, Raphael? Müsstest du nicht bei deiner Familie sitzen?"
„Bin auf den Balkon gegangen."
„Ich auch.", lachte sie auf. „Könnte fast romantisch sein, du da und ich hier auf dem Balkon, hm?"
„Nur fast?", fragte ich vorsichtig.
„Rapha..."
„Lass uns noch einmal in Ruhe reden, wenn du in Wien bist, Marlene. Wir haben uns nie ausgesprochen."
„Raphael, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Wollen wir wieder anfangen und so tun als könnte Freunde sein funktionieren?"
„Nein.", gab ich zurück.
„Siehst du. Wir wissen, dass alles gesagt ist zwischen uns."
„Du weißt selbst, dass das nicht stimmt. Ich weiß, ich komme spät damit, aber.."
„Willst du die ehrliche Antwort darauf, warum ich glaube, dass wir uns nicht noch einmal sehen sollten? Weil es mir die letzten Wochen gut ging mit der Situation. So, wie es war, das tat uns beiden nicht gut."
Wie ein Stich mitten ins Herz traf mich ihr Satz. Der Druck von eben war nichts dagegen. Es war klar gewesen; meine Einsicht kam zu spät.
„Rapha?"
„Ja. Ich...Es freut mich zu hören, dass es dir gut geht. Wirklich. Aber du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass es mir weh tut, dass du mich nicht mehr sehen willst.", gab ich ehrlich zu.
Ich hatte nichts mehr zu verlieren, den Korb hatte ich eh kassiert.
„Es tut mir leid, Rapha. Glaub mir, ich will dich sehen, es ist nur..."
„Marlene? Kommst du wieder...oh."
Eine zweite Frauenstimme kam aus dem Hintergrund; ihre Schwester vermutete ich.
„Ich muss auflegen Rapha. Tut mir leid."
Ein Tuten kam aus meinem Handy und ungläubig schaute ich das Display an. Ich hatte nichts erwartet, aber mein letzter Funke Hoffnung war nun auch verloren. Mit zusammengebissenen Zähnen schaute ich in den Himmel. Welchen Plan hatte das Schicksal mit mir und ihr gehabt, wenn ich jetzt wieder alleine hier stand? Einzig und allein die Einsicht, dass eine Beziehung vielleicht doch nicht das größte Übel auf der Welt wäre?
Ich hörte, wie die Tür hinter mir aufging. Ohne zu schauen, wusste ich, dass Barbara kam.
„Du hast mit ihr telefoniert, oder?", fragte sie, als sie neben mir stand.
„Ja."
„Und?"
„Liebe Grüße soll ich ausrichten."
Meine Schwester lachte kurz auf. „Danke. Aber was kam nun bei raus?"
„Dass sie mich nicht mehr sehen will. Es geht ihr besser, wenn wir keinen Kontakt haben."
„Ja.", war das Einzige, was Barbara dazu sagte. Fragend schaute ich sie nun doch an.
„Na, diese Tragödie zwischen euch konnte ja auch nicht ganz spurlos an ihr vorbei gehen, wenn du mit ihr bist im Herzen aber andere fickst."
„Barbara!", rief ich und versuchte ihr den Mund zuzuhalten.
„Okay, okay, ich hör auf!", lachte sie. „Aber du weißt, was ich meine. Natürlich tut das weh. Und dann ist kein Kontakt eben gesünder. Aber ich glaub nicht, dass sie dich nicht vermisst. Entweder, du lässt dich davon jetzt schon abschrecken, oder du meinst es ernst und kämpfst um sie. Und jetzt komm wieder rein zu Maman."
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Untenable
FanficMarlene war eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die seit Jahren unabhängig war - vor allem von Männern. Und Raphael Ragucci hatte es seit mindestens genau so vielen Jahren bereits aufgegeben, daran zu glauben, dass er eines Tages wieder eine normale Be...