Marlene
Als ich die Tür öffnete war ich mir sicher, dass mir die Kinnlade nicht nur im übertragenen Sinne runterfiel. Ich wusste nicht, wen ich um die Uhrzeit noch erwartet hatte, aber Raphael war es mit Sicherheit nicht. Seit dem Abend, an dem ich sein Musikvideo gesehen hatte, hatte ich seine Anrufe und Nachrichten ignoriert und mir selbst auferlegt, seine Insta-Stories nicht mehr anzuschauen. Dementsprechend wusste ich nicht einmal, dass er mittlerweile wieder in Wien war. Aber so wie er nun dort vor meiner Tür stand, die Haut um einiges brauner, als das letzte Mal, als wir uns gesehen haben und ein locker sitzendes schwarzes Hemd an, bei welchem die oberen drei Knöpfe auf waren, sodass man den Raben auf seiner Brust sehen konnte, fiel es mir garnicht mehr so leicht, meine ganzen Gefühle zu unterdrücken.
„Hey", riss Raphael mich aus meiner Schockstarre. Erst jetzt fiel mir auch auf, wie ich vor ihm stand. Die Haare zu einem unordentlichen Dutt hochgebunden, ein enges weißes Top und eine Shorts an, die ich nur zuhause trug. Ich hatte mich in den letzten Tagen in die Arbeit gestürzt, um meinen Gedanken aus dem Weg zu gehen und hatte mein Äußeres dabei ziemlich vernachlässigt.
„Was machst du denn hier?", brachte ich heraus.
„Ich weiß, ich hab' mich nicht angemeldet, aber ich würd gern mit dir sprechen. Lässt du mich rein?"
Ich kannte mich: Ich war viel zu neugierig, um ihn an der Tür abzuweisen; ich wollte schon wissen, was er mir sagen würde, um die ganze Sache zu erklären. Also trat ich bloß zur Seite und bat ihn stumm herein.
„Willst du was trinken?", fragte ich ihn, was er jedoch verneinte. „Dann lass uns auf dem Balkon sprechen."
Damit ging ich voraus auf meinen Balkon, der mittlerweile wieder in der Abendsonne lag und ein eigentlich viel zu romantischen Blick über Wien bot; zumindest zu romantisch für das Gespräch, das wir nun führen mussten. Während Raphael sich setzte, blieb ich stehen und lehnte mich gegen das Geländer.
„Warum hast du mich ignoriert?", begann er direkt mit dem Thema.
„Das kannst du dir wahrscheinlich selber denken, Raphael."
„Wegen des Videos.", stellte er richtig fest.
„Wegen dem, was ich von dir im Video gesehen habe."
Er hielt meinem Blickkontakt stand und ich versuchte in seinem Gesicht herauszufinden, was er über die Sache dachte. Ich hatte befürchtet, dass er mein Verhalten übertrieben finden würde und nun eh sein Interesse verloren hätte. Das eine Bild, das ich von ihm hatte, in dem er vor allem unkomplizierte Bindungen zu Frauen suchte, würde mit Sicherheit nicht begeistert davon sein, wenn man schon nicht damit klar kam, dass er in Musikvideos (halbnackte) Frauen berührte. Aber so, wie er jetzt vor mir saß, wurde diese Befürchtung nicht gerade bestätigt. Auf seiner Stirn hatten sich tiefe Falten gebildet, er schaute ernst, aber nicht genervt oder abgeneigt; erstaunlicherweise fand ich eine Spur Reue und vielleicht sogar ein wenig Befürchtung in seinem Blick. Aber ich merkte auch, dass er nicht so recht wusste, was er jetzt sagen sollte. Deshalb ergriff ich wieder das Wort:
„Ich weiß, dass wir weder zusammen waren, noch irgendwas Exklusives hatten. Zwischen uns war nicht mal wirklich etwas passiert. Aber es war nun mal auch nicht Nichts gewesen. Du weißt, ich hatte ein zweischneidiges Bild von dir und wir hatten darüber auch gesprochen. Und dann sehe ich das Video und mir bestätigt sich das negative Bild von dir, auf das ich mich auf keinen Fall einlassen wollte. Und das Video habt ihr gedreht, während wir jeden Tag Kontakt hatten und du es trotzdem geschafft hast, mich im Glauben zu lassen, dieses negative Bild von dir sei falsch. Glaub mir, das hat meine Unsicherheit dir gegenüber nicht grad aus der Welt geschafft."
Während meines Monologs hatte sich Raphaels Blick noch weiter verhärtet.
„Mir ist klar geworden, wie das Ganze für dich gewirkt haben muss. Leider aber erst viel zu spät. Ich bin auf Ibiza, mit den Jungs und den Partys, in meinen Film verfallen, in dem ich in den letzten Jahren, vor allem nach der Trennung von meiner Exfreundin, lange war. Wenn sich alles um mich dreht, alles mit Fingerschnipsen funktioniert, fällt es mir manchmal noch schwer, dem nicht zu verfallen. Damit mein ich nicht, dass ich mir die Models da aufs Zimmer geladen habe; die ganze Zeit ist da nichts gelaufen, seitdem wir uns kennen mit niemandem mehr. Aber ich hab' trotzdem nicht dran gedacht, dass es vielleicht keine gute Idee sein könnte, mich mit zwei Frauen und wenig Klamotten ins Bett zu legen und einen auf Pascha zu machen."
Es herrschte eine kurze Stille zwischen uns, in der keiner richtig wusste, was er sagen sollte. Ich verstand Raphaels Punkt irgendwo. Es war sein Job, er war Rapper und das war das Bild, das er nach Außen präsentierte; wenn man privat mit ihm zu tun hatte musste man lernen Raphael Ragucci und Raf Camora voneinander zu trennen. Und gleichzeitig wusste ich auch, dass es mir trotz allem jetzt noch schwerer als vorher fallen würde, ihm zu vertrauen, dass er mir gegenüber ehrlich war und die Seite, die er mir von sich zeigte, der Wahrheit entsprach.
„Danke, dass du so ehrlich zu mir bist Raphael. Und dass du hergekommen bist, damit wir darüber reden können. Aber mich hat die ganze Sache sehr zum Nachdenken gebracht. Du weißt von meiner letzten Beziehung und meinen Vertrauensproblemen. Und dass ich mir nie sicher war, wer du wirklich bist und welche Version von dir Raphael und wer Raf ist. Ich glaub, dass du das selbst nicht weißt; das, was du mir da in dem Video präsentiert hast, ist auch ein Teil von dir und den bist du noch lange nicht los. Und so lange das so ist, werd ich mich nicht auf dich einlassen können. Ich glaube, es wäre besser, wenn wir das, was auch immer das mit uns war, nicht weiter verfolgen, auch wenn ich die Treffen mit dir sehr genossen habe Raphael.", endete ich. Gleichzeitig sorgten meine eigenen Worte dafür, dass es wie ein Schlag in meine Magengrube war. Ich mochte ihn wirklich gerne; zu gerne dafür, dass wir uns nicht lange kannten. Aber meine Mauern hatte ich längst wieder auf ihre ursprüngliche Höhe aufgefahren.
In Raphaels Blick hatte sich etwas verändert. Ich sah ihm an, dass er mit einem unangenehmen Gespräch gerechnet hatte, vielleicht einer Standpauke. Aber sicher nicht damit, dass ich ihn quasi darum bitten würde, den Kontakt abzubrechen. Ich glaubte, sogar Traurigkeit erkennen zu können, er wirkte zusammengesackt, wie er da auf meinem Balkon vor mir saß.
„Wow", sprach er. „Ich weiß nicht, womit ich gerechnet habe, als ich zu dir gefahren bin, aber ich glaub nicht hiermit.".
„Tut mir leid, Rapha."
„Mir tut es leid, Marlene. Ich weiß von deiner Geschichte und trotzdem hab' ich mich verhalten, als würd ich es nicht tun. Dass ich eine Abfuhr erhalte von einer Frau, die ich ernsthaft kennenlernen wollte, nachdem ich mich jahrelang wie ein Arschloch gegenüber Frauen verhalten habe ist mein Karma, aber du solltest darunter nicht leiden müssen. Ich verstehe deinen Wunsch nach Abstand komplett."
Schweigend schauten wir uns ein weiteres Mal an. Ich dachte mir, dass es vermutlich das letzte Mal sein würde, dass ich ihn in meiner Wohnung sehen würde, und versuchte mir das Bild einzuprägen. Nach einer Weile stand er auf und trat auf mich zu. Wortlos nahm er mich in den Arm und ich erwiderte die Umarmung, während er mich einige Sekunden hielt.
„Ich werd dann fahren. Vermutlich hast du Recht und ich hab das alles noch nicht hinter mir gelassen. Aber glaub nicht, dass irgendetwas dir gegenüber gespielt war, okay? Ich war dir gegenüber immer ehrlich."
Seine Hand lag an meiner Wange und sein Daumen strich sanft darüber. Instinktiv lehnte ich meinen Kopf seiner Hand entgegen. Wir sahen uns in die Augen und unsere Gesichter waren sich viel zu nahe. Hätten wir gerade ein anderes Gespräch geführt, wäre das vermutlich der perfekte Moment für einen ersten Kuss gewesen. Aber so nahm Raphael seine Hand nur zögerlich von meinem Gesicht, musterte dieses ein letztes Mal, bevor er sich umdrehte und ohne einen weiteren Kommentar oder eine Antwort von mir abzuwarten meine Wohnung zu verlassen.

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Untenable
FanfictionMarlene war eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die seit Jahren unabhängig war - vor allem von Männern. Und Raphael Ragucci hatte es seit mindestens genau so vielen Jahren bereits aufgegeben, daran zu glauben, dass er eines Tages wieder eine normale Be...