Kapitel 17

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Raphael

Die folgenden Tage fühlten sich für mich an wie in einer Blase. Bereits bei der Verabschiedung von Marlene, nachdem sie bei mir übernachtet hatte, wusste ich, dass wir uns in eine Lüge stürzten. Die gemeinsame Nacht hatte bei mir einiges verändert, auch wenn nicht groß etwas passiert war. Aber sie wiederzusehen, obwohl ich damit nicht so schnell gerechnet hatte, und ihr dann noch so nahe zu kommen, hatte mich überrumpelt. Mehr als vorher kämpften mein Kopf und mein Herz nun gegeneinander. Verlieben ist ein großes Wort und dafür brauchte es Zeit, aber ich wusste, dass ich mich seit Jahren nicht mehr so bei einer Frau gefühlt hatte, wie bei ihr. Aber mein Kopf kämpfte gegen jedes Gefühl an, weil es keine Aussicht hatte. Sie konnte meine Vergangenheit nicht ertragen und ich konnte ihr keine sichere Zukunft geben.

Seit der Nacht war ein ganzer Monat vergangen und unser Kontakt war intensiver als zuvor. Wir telefonierten weiterhin regelmäßig wenn wir nicht in der gleichen Stadt waren und nicht ein Tag verging, an dem wir keinen Kontakt hatten. Waren wir im gleichen Ort, verbrachten wir die Abende beieinander oder sie richtete ihren Arbeitsplatz bei mir im Studio ein. Immer wieder waren wir uns näher gekommen, aber nie so nah, als dass es irgendeine Grenze unserer Abmachung überschritten hätte.

Der Sommer neigte sich dem Ende zu, aber noch war es warm in Berlin. Dementsprechend leer war das Anthra-Studio heute, alle wollten die letzten Sommertage genießen und draußen sein. Mir gefiel es ganz gut, dass ich in Ruhe an neuen Tracks arbeiten konnte. Das Klingeln meines Handys durchbrach diese Ruhe.

„Hey beauté."

„Hey Rapha, bist du noch im Studio?"

„Klar, wieso?"

„Mach mal die Tür auf, Ragucci." Damit legte Marlene auf. Ich hatte heute nicht mit ihr gerechnet, dachte sie würde erst später aus Wien zurückkommen.

Gerade hatte ich jedoch eine Idee für einen Beat gehabt, den ich unbedingt zu Ende bringen musste, weshalb ich Marlene nur die Tür öffnete und zurück ins Studio ging, um weiterzuarbeiten. Sie kannte den Weg mittlerweile eh in und auswendig.

Wenige Minuten später spürte ich, wie sich zwei Hände von hinten über meine Schultern auf meine Brust schoben und Marlene ihr Kinn auf meinem Kopf ablegte. Ich schob meine Kopfhörer herunter.

„Geistesblitz gehabt?"

„Ja, willst du hören?", fragte ich sie und spielte ohne eine Antwort abzuwarten den Beat ab. Marlene hörte aufmerksam zu. Ich hatte ihr schon ein paar Mal etwas von mir abgespielt und wusste, dass sie mir ihre wirkliche Meinung sagen würde.

„Gefällt mir sehr gut, wirklich.", gab sie mir als Feedback. „Wenn du jetzt nicht über Autos oder Ibiza drauf rappst kann das sogar ganz gut werden."
„Ehpa, werd nicht frech. Was machst du überhaupt schon wieder in Berlin? Sehnsucht gehabt?"

„Wie denn, wenn du mich alle 2 Stunden anrufst.", gab sie mit einem provozierenden Blick zurück.

„Wenn ich nicht anrufe, machst du es, wissen wir beide. Hast du da Essen mitgebracht?", fragte ich und deutete auf die Tüten, die Marlene auf dem kleinen Tisch hinter sich abgestellt hatte. Es war zur Tradition geworden, dass sie etwas mit ins Studio brachte oder ich in ihr Büro, damit wir trotz Arbeit zusammen essen konnten.

„Jap. Aber dieses Mal hab ich gekocht anstatt was zu kaufen." Damit begann sie die zwei Dosen aus der Tasche auszupacken.

„Noch besser!", sagte ich und trat hinter sie, umfasste sie an ihrer Taille und drückte ihr einen Kuss auf die Wange auf.

Gemeinsam setzten wir uns an den Tisch und aßen. Währenddessen sprachen wir über Alltägliches, einen Haufen Kleinigkeiten und scherzten miteinander herum, als auf einmal mein Handy-Bildschirm anging und eine Nachricht erschien.

Lisa: Hast du heute Abend Zeit?

Fuck. Dass so eine Nachricht erscheinen könnte, hatte ich nicht bedacht. Mir war bewusst, dass auch Marlene sie gelesen hatte, aber sie sprach es nicht an. Dass wir potentiell etwas mit anderen hatten, gehörte zu unserer Abmachung, Freunde sein war schließlich nichts Exklusives. Trotzdem war es mir unangenehm, das vor ihr zuzugeben. Es bestätigte ja nur das Bild, was Marlene von mir hatte. Trotzdem war die Stimmung ins Unangenehme gerutscht und der Elefant stand im Raum.

„Sie lebt in Wien, ich hab mich schon länger nicht mehr mit ihr getroffen.", sprach ich es deshalb direkt an.

„Ist alles gut Rapha. Ich weiß, dass du nicht im Zölibat lebst und Frauen triffst. Es geht mich nichts an."

Ja, so die Theorie. Trotzdem würde ich mir bei meinen Freunden normalerweise keine Gedanken machen, wenn sie rausfinden, dass ich mit Frauen schlafe. Doch in dieser „Freundschaft" machte es sehr wohl ein Unterschied.

„Es gibt ein paar Frauen, mit denen ich mich in den letzten Wochen getroffen habe. Zwei um genau zu sein. Ich kenne beide schon länger und beide wissen, woran sie sind."

Es fühlte sich komisch an, ihr das zu sagen. Ein kleiner Teil in mir hoffte noch immer, sie von mir überzeugen zu können. Ausgerechnet damit, dass ich über meine Frauengeschichten ehrlich zu ihr war.

„Und welche ist besser?", gab Marlene trocken zurück. Überrumpelt von ihrer Art mit meinem Geständnis umzugehen, schaute ich sie an. Doch keine Regung.

„Keine. Ohne Gefühle gibt es nur gut oder schlecht.", gab ich genauso stumpf zurück.

„Schreib doch mal darüber 'n Song, hättest du richtig Tiefgang auf einmal.", versuchte sie die Situation zu überspielen, doch ich merkte, dass es sie getroffen hatte. Ich konnte es ihr nicht verübeln; der Gedanke daran, dass sie mit einem anderen ist, war für mich wie ein Schlag in die Magengrube.

„Musst du noch weiter oder kommst du mit zu mir?", fragte ich sie, als wir das Geschirr weggeräumt hatten.

„Ich komm mit." Das ein oder andere Mal hatten wir bereits beieinander übernachtet, wenn wir spät abends nicht mehr fahren wollten. Und darauf würde es vermutlich auch heute wieder hinauslaufen dachte ich, da es bereits spät geworden war, als wir gemeinsam durch die Garage meiner Wohnung liefen. Im Fahrstuhl angekommen, zog ich sie in meine Arme und hielt sie fest. Sie gab keinen Widerstand und legte ihre Arme um meinen Rücken, ließ sie darüber gleiten.

„Hast du jetzt eigentlich Zeit für Lisa?", durchbrach sie die Stille.

„Ah, du bist ein Stimmungskiller, weißt du das?", gab ich zurück, ließ sie aber kein bisschen los.

„Hab keine Zeit, merkt sie doch."

„Du bist ein Arschloch."

„Wissen alle."

In dem Moment waren wir bereits im Stockwerk meiner Wohnung angekommen und die Türen des Fahrstuhls gingen auf.

„Komm Ragucci, ich bin müde."

Wie selbstverständlich zog Marlene sich die Schuhe aus und ging schnurstracks in mein Badezimmer, um sich fertig zu machen. Die Situation hatte etwas sehr Vertrautes, wie sie sich in meiner Wohnung bewegte und wir miteinander umgingen. Und es funktionierte.

Mit einem tiefen Seufzen ging ich in mein Schlafzimmer, zog mich aus und legte mich ins Bett. Wenig später folgte Marlene und machte das Licht aus, bevor sie sich mit dem Rücken zu mir legte und ich sie an mich heranzog. 

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