Kapitel 27

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Marlene

Für einige Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, stand ich vor der Haustür und nichts passierte. Doch auf einmal hörte ich den Summer, trat in den Hausflur und auf den Fahrstuhl zu. Es war verrückt, wie vertraut mir dieses Haus war, wie oft ich hier gewesen war und es als ganz selbstverständlich angesehen hatte. Wie oft Raphael und ich uns in diesem Fahrstuhl näher gekommen waren, in dem ich nun stand. Diese Gedanken versuchte ich zu verdrängen und atmete ein letztes Mal tief ein und aus, bevor sich die Türen des Fahrstuhls auf seiner Etage öffneten. Raphael stand bereits in der Tür. Er war um einiges brauner als beim letzten Mal, seine Tattoos kamen dadurch viel mehr zum Vorschein. Er war trainiert und sah gut aus, wie immer. Zu gut. Dennoch hatte er tiefe Augenringe, schien müde zu sein.

Wir standen uns gegenüber, er in den Türrahmen gelehnt, ich unschlüssig mit den Händen in meinem Mantel vergraben im Flur. Aus seiner Wohnung kam die für ihn typische französische Musik und ich roch, dass er seine Thunfisch Pasta gekocht hatte.

„Hey.", versuchte ich, meine Stimme wiederzufinden, doch mein Kopf war wie leer gefegt.

„Hey.", kam es resigniert von ihm zurück. Ich merkte, dass er wirklich keine Lust hatte, ein Gespräch mit mir zu führen. „Was soll das Marlene, was machst du hier?"

Ich wusste nicht, ob ich erwartet hatte, dass er mich mit offenen Armen empfangen würde, aber so hatte er noch nie mit mir gesprochen, in diesem Tonfall und mit dieser Ablehnung. Ich spürte, wie mir wieder schlecht wurde.

„Darf ich reinkommen? Ich will mit dir reden und ich denke nicht, dass das die ganzen Nachbarn mitbekommen müssen."

„Ich meinte das ernst. Du musst mir nichts erklären. Ich hab gesehen, was ich gesehen habe und du hast jedes Recht dazu. Wozu jetzt noch in alten Wunden rumgraben?"

Sein gleichgültiger Ton fing an mich wütend zu machen. Ich kannte ihn gut genug um genau zu wissen, dass ihn das alles nicht kalt ließ. Dass er jetzt dachte, vor mir einen auf stark und unnahbar machen zu müssen, riss an meinem Geduldsfaden.

„Alte Wunden? Deine Nachrichten haben sich vorhin noch ganz anders angehört. Ich weiß nicht, was du für einen Film fährst, Ragucci.", fuhr ich ihn an.

Ich sah, wie er seinen Kiefer zusammenbiss, dennoch trat er aus der Tür und ließ mich an sich vorbei. Ich zog meine Schuhe und meinen Mantel aus, den er mir kommentarlos abnahm, bevor ich weiter in sein Wohnzimmer ging, wo ich mich gegen die Küchenzeile lehnte. Das Licht war gedimmt, das Essen köchelte tatsächlich noch auf dem Herd. Mit verschränkten Armen standen wir uns gegenüber, einer ein schlimmerer Dickkopf als der andere, beide wütend; auf sich selbst vermutlich mehr als auf den anderen.

„Der, mit dem du mich gesehen hast, ist Daniel. Wir kennen uns, weil wir früher schon zusammengearbeitet haben, wir sind Kollegen.", fing ich an, mich zu erklären.

Beim Wort ‚Kollegen' schnaubte Raphael verächtlich.

„Ich bin in den letzten Wochen ein paar Mal mit ihm aus gewesen. Er hat Interesse gezeigt, aber ich hab keins. Es war einfach nur nett, mal mit einem Mann auszugehen, der sich nicht noch mit 10 anderen trifft." Mir war bewusst, dass ich ihn nun mit Absicht provozierte, aber seine Art holte diese Seite aus mir hervor.

„Ganz schön große Worte für jemanden, der sich angeblich schlecht auf Leute einlassen kann, aber nach einem Monat mit dem nächsten Mann durch die Stadt läuft."

Raphael wusste, wie sehr er mich mit dieser Aussage reizte. Er wusste genau, dass es sehr wohl der Realität entsprach, dass es mir nicht leicht fiel, mich jemandem zu öffnen.

„Raphael...", warnte ich ihn leise, „Daniel und ich sind nur befreundet. Ich hab kein Interesse daran, jemanden kennenzulernen, ich habe erstmal genug von Männern.".

„Wenn das alles war, was du sagen wolltest..."

„DU bist doch derjenige, der sich nicht festlegen kann und immer mehrere Frauen gleichzeitig haben muss!", platzte es laut aus mir heraus. Ich fühlte mich hilflos, wollte die Situation nicht so enden lassen, wollte seine wirklichen Gedanken und Emotionen aus ihm herausholen und nicht das, was er vorgab zu sein. „Machst du jetzt ernsthaft MIR den Vorwurf, dass ich mich mit jemand anderem treffe, nachdem wir nicht mal mehr Kontakt haben?!"

„Wer wollte denn wieder den Kontakt abbrechen?! Du oder ich, Marlene?", gab Raphael genau so laut zurück.

„Man, doch eben genau deshalb! WEIL du dich nicht ändern willst!"

„Das stimmt doch überhaupt nicht!". Wild gestikulierend trat er einen Schritt auf mich zu. „Du hast mir doch gar keine Chance gegeben, mit dir zu reden. Ich hab dir geschrieben, ich wollte mit dir sprechen und du hast mich abgewürgt am Telefon. Die ganze Zeit wollte ich mit dir reden und du bist immer abgehauen!"

„Ich bin abgehauen, nachdem ich mir den ganzen Wahnsinn monatelang gegeben hatte, Raphael. Hör auf mir jetzt die Schuld in die Schuhe schieben zu wollen!"

„Will ich doch garnicht"

"Natürlich! Ich treffe ein Mal einen anderen Mann und du tust so, als würdest du nicht dauernd andere Frauen treffen!"

"Tue ich nicht! Hör mir doch mal zu! Ich hab mich seit Monaten mit keiner Frau mehr getroffen. Schon als wir noch Kontakt hatten nicht und danach erst recht nicht mehr.", wurde er ein wenig leiser. Doch jetzt konnte ich nicht anders reagieren, als ungläubig zu schnauben. 

„Ich meins ernst, Marlene. Guck meine Kontakte durch, meine Nachrichten, meine Anruflisten. Mir egal. Ich hab alle Kontakte abgebrochen und mich mit niemandem getroffen."

In meinen Augen sammelten sich Tränen. Noch immer stand ich mit verschränkten Armen vor Raphael. Meine Gefühle überwältigten mich. Ich wollte nicht einbrechen vor ihm, wollte nicht zeigen, wie viel mir diese Aussage bedeutete, wollte ihm nicht glauben. Gleichzeitig war das alles, wonach ich mich lange gesehnt hatte.

„Weinst du?"

„Nein.", wehrte ich ab. „Aber erst schreien wir uns an und jetzt..."

„Ich wollte dich nicht anschreien. Ey, ich bin doch nicht wirklich sauer auf dich, ich bin sauer auf mich! Ich weiß ja, dass ich verkackt habe, aber dich dann mit einem anderen zu sehen, hat mir unter die Nase gerieben, was ich verloren habe.", gab er kleinlaut zu. Ohne etwas weiteres zu sagen zog er mich an sich heran. Er legte seine Arme um mich, mit einer Hand an meinem Hinterkopf hielt er mich dicht bei sich. Raphael vergrub sein Gesicht in meinen Haaren, als auch ich mich aus meiner Starre löste und mit beiden Händen in seinem Pullover nach Halt suchte.

„Ich hab viel zu spät realisiert, was ich da tue. Was ich gehen lasse, wenn ich nicht versuche mich zu ändern. Und als ich es realisiert hatte, hast du mich immer abgewimmelt.", flüsterte er in meinen Haaransatz.

„Du hast mir nicht das Gefühl gegeben, dass du willst, dass es zwischen uns ernsthaft funktionieren kann.", gab ich zurück.

„Ich weiß. Aber ich will das."

"Rapha, das ist.."

"Viel zu spät. Ich weiß das."

Ich löste meinen Kopf aus seiner festen Umarmung und schaute ihn an. Seine dunkelbraunen Augen wirkten in dem gedämmten Licht noch dunkler als eh schon, und wanderten unsicher  mein gesamtes Gesicht ab. Mit seinen Händen umfasste er mein Gesicht und wischte die Tränen weg, die sich aus meinen Augen gelöst hatten. Mein Blick wanderte zu seinen vollen Lippen. Ich verstand nicht, wie sich die Stimmung innerhalb weniger Minuten so ändern konnte, doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, senkte Raphael seinen Mund auf meinen. 


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