Raphael
Ein lautes Hupen vom Wagen hinter mir ließ mich zusammenzucken und holte mich aus meiner Tagträumerei. Ich ließ mein Handy wieder auf den Beifahrersitz fallen und fuhr gerade noch über die schon wieder gelbe Ampel, während der Fahrer im Wagen hinter mir mich wahrscheinlich gerade dafür verfluchte, dass er meinetwegen auf die nächste Grünphase warten musste. Mittlerweile war der Sommer auch in Berlin angekommen und die Sonne brannte durch die Windschutzscheibe auf meiner Haut. Ich war auf dem Weg ins Studio, hatte die letzten Wochen bei meiner Familie verbracht und nicht nur mich selbst wieder, sondern auch neue Ideen für Songs sammeln können. Mein Handy vibrierte ein weiteres Mal und ich wusste, dass auch diese Nachricht wieder von Marlene sein würde. Nach unserem letzten Treffen vor vier Wochen hätte ich nicht gedacht, dass wir heute noch in Kontakt stehen würden. Sie hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, dass sie Abstand wollte und sich angesichts meiner vergangenen Verhältnisse zu Frauen und meines Lebensstils nicht auf mich einlassen konnte. Und ich konnte das sogar nachvollziehen: Sie hatte schlechte Erfahrungen gemacht in ihrer letzten Beziehung, hatte Vertrauensprobleme. Außerdem war Marlene keine von diesen Frauen, die unbedingt einen Mann an ihrer Seite brauchten, sie hatte ihre eigene Firma und war fast 24/7 in ihren Beruf eingebunden. Wenn sie sich auf einen Mann einlassen würde, dann nur, wenn dieser ihr die komplette Sicherheit geben würde, ohne Kompromisse. Sie wusste von meiner Vergangenheit, aber ich hatte mich bemüht ihr zu zeigen, dass es noch eine andere Seite gab, Raphael Ragucci neben Raf Camora; doch spätestens nach meinem Musikvideodreh hatte ich mir die Chance, die sie mir gegeben hatte, verspielt. Ich selbst wusste, dass ich sehr wohl dazu in der Lage war, Beziehungen zu führen, war nie der Typ für dauernd wechselnde lockere Beziehungen gewesen, wollte heiraten und eine Frau fürs ganze Leben finden. Aber, dass meine Eskapaden der letzten Jahre irgendwann für eine Frau, die ich ernsthaft kennenlernen wollen würde, schwer zu akzeptieren sein würden, war mir klar gewesen. Alles Teil meines Tributes, den ich zu zahlen hatte.
Ich selber hatte aus der ganzen Sache eher gezogen, dass eine Beziehung jetzt nichts für mich war. Auch, wenn ich den Traum von einer eigenen Familie, einem normalen Leben mit Frau und Kindern, noch immer nicht ganz loslassen konnte, war mir bewusst, dass ich dafür momentan überhaupt keinen Raum hatte. Und Marlene hatte vermutlich recht, genau wie Anna es damals auch hatte: Eine Beziehung hat in meinem Leben, wie ich es aktuell lebe, einfach keinen Platz, weder was meine Zeit angeht, noch meinen Lebensstil.
Trotzdem hatte ich das Ganze nicht ohne weiteres aufgeben wollen. Zu selten war es geworden, dass ich Leute traf, mit denen ich mich auf Anhieb auf so eine Art und Weise verstand, wie ich es mit Marlene tat. Es hatte nicht lange gedauert und ich hatte ihr Insta Profil ausfindig machen können. In ihrer Story hatte ich gesehen, dass sie momentan für einen Geschäftspartner in Italien unterwegs war. Da ich eh nichts mehr zu verlieren hatte und sie mich höchstens weiter ignorieren konnte, habe ich ihr vor ein paar Tagen auf ihre Story geantwortet und sie somit wieder angeschrieben. Obwohl ich nicht mit einer Antwort gerechnet habe, kam wenige Stunden später eine Nachricht von ihr. Und so schrieben wir seit ein paar Tagen wieder; wenn auch nur oberflächlich und unregelmäßig. Dennoch musste ich mir eingestehen, dass ich mich immer öfter dabei erwischte, dass ich noch immer auf ihre Nachrichten wartete.
„Raf, kommst du noch mit?", sprach Bonez mich an, der gerade seinen Kopf durch die Tür zum Studio gesteckt hatte.
„Wohin geht ihr?", antwortete ich und drehte mich auf meinem Stuhl zu ihm rum.
„Nur in den Club hier um die Ecke, die Jungs kommen auch mit."
„Ah Bruder, eigentlich hab ich keine Lust. Und die Songs hier will ich noch fertig machen."
„Ja ja ja. Die rennen nicht weg. Und du musst auch mal wieder rauskommen. In fünf Minuten unten." Und damit warf er die Tür hinter sich wieder zu. Bonez hatte ich natürlich davon erzählt, dass sein ‚versuch das einfach wieder gerade zu biegen' nicht so ganz funktioniert hatte. Und ihm war auch aufgefallen, dass mich diese Zurückweisung ein wenig mehr getroffen hatte, als es sonst der Fall war. Zumal ich eh nicht oft einen Korb bekomme, davon ganz abgesehen.
Eine Stunde später fand ich mich mit Bonez, den 187 Jungs und anderen Leuten aus dem Studio in einem abgetrennten Bereich eines Clubs wieder, in dem wir schon das ein oder andere Mal waren. Wie immer hatten sich auch dieses Mal wieder ein paar Frauen zu uns gesellt, manche waren Freundinnen von unseren Leuten, andere wurden von den Jungs aus dem Club zu uns hochgeholt. Den Meisten sah man ziemlich schnell an, dass sie die ganze Sache hier ziemlich aufregend fanden, mit bekannten Rappern den Abend zu verbringen, die ein oder andere Insta-Story hochzuladen und im Idealfall mit einem von uns nach Hause zu gehen, um den Freundinnen morgen erzählen zu können, dass sie mit einem Rapper geschlafen haben. Und ich ertappte mich dabei, wie ich kurz darüber nachdachte, wie leicht es wäre, meine Gedanken um Marlene für ein paar Stunden zu verdrängen und mich mit einer dieser Frauen abzulenken. Doch genau so schnell wie dieser Gedanke kam, verwarf ich ihn auch wieder. Ich wusste, dass mir das alles nichts mehr gab und deshalb ersparte ich mir lieber die unangenehme Situation, mich später aus einem Hotelzimmer schleichen zu müssen.
Ich erhob mich stattdessen und drängte mich an den Leuten in unserem Bereich vorbei, um zu den Toiletten zu gehen. Gerade, als ich dorthin um die Ecke bog, stieß ich an der Schulter mit jemandem zusammen.
„Fuck, Sor-", brach mir die Stimme ab.
Die Frau, die ich gerade fast umgerannt hatte, blonde Haare zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, dunkelblaue Augen von einem dezenten Make-Up betont, ein kurzes schwarzes Kleid und schwarze Overknees, blieb ebenso stumm vor mir stehen.
„Marlene!"
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Untenable
FanfictionMarlene war eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die seit Jahren unabhängig war - vor allem von Männern. Und Raphael Ragucci hatte es seit mindestens genau so vielen Jahren bereits aufgegeben, daran zu glauben, dass er eines Tages wieder eine normale Be...