Kapitel 7

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Marlene 

Nach dem gestrigen Abend konnte ich noch eine ganze Weile nicht schlafen. Nachdem ich Raphael herausgelassen hatte und in meine Wohnung kam, war es, als würde ich erst dann wieder in der Realität ankommen. Die ganze Nacht mit ihm fühlte sich rückblickend komplett surreal an. Die Gespräche mit Raphael hatten sich angefühlt, als würden wir uns schon ewig kennen. Aber als ich um 7 Uhr endlich in meinem Bett lag, kannte ich ihn gerade einmal seit 9 Stunden. Trotzdem hatte er es geschafft, dass ich meine sonst so stabilen Mauern fallen ließ. Dennoch: wenn ich den Abend jetzt ein wenig Revue passieren lasse, blieb doch ein kleiner Rest, der mich bei ihm misstrauisch machte. Das Bild, das ich heute Abend von ihm bekommen hatte, war ein komplett anderes als das, was ich von ihm in der Öffentlichkeit gesehen habe. Der bodenständige, ruhige und reflektierte Mann von heute Nacht, der ein Familienmensch ist, funktioniert für mich nicht gleichzeitig als ein Mann, der mehrere Frauen in seinen Kontakten hat, in mehreren Städten, mit denen er sich nur für Sex trifft. Und so lange, wie ich die beiden Personen Raphael Ragucci und Raf Camora für mich selbst nicht zusammenbekomme, wird diese Mauer auch nicht komplett verschwinden können.

Raphael 

„Bruder, was machst du denn hier?", begrüßte mich Sale am nächsten Morgen im Fitnessraum. Es war gerade acht Uhr, aber auch wenn ich versucht hatte, mich schlafen zu legen, war ich nach einer Stunde doch wieder aufgestanden und trainieren gefahren. Zu sehr hatte mich die letzte Nacht aufgewühlt, aber auf eine positive Art und Weise. „Ich dachte nach der Veranstaltung gestern würde ich ausnahmsweise mal ohne dich trainieren können."

„Ah Bruder, wenn du ohne mich trainieren würdest, würdest du doch nach 10 Minuten wieder abhauen.", gab ich ihm lachend zurück und begrüßte ihn. „Ich war nicht lange dort gestern."

„Raf ich kam selbst erst um drei Uhr nach Hause und dein Auto war noch nicht wieder zurück, wenn mich nicht alles täuscht. Bei welcher von deinen Frauen hast du dieses Mal gepennt?". Der Nachteil davon, dass deine Familie und Freunde in deiner Nähe lebten war, dass sie immer sehen konnten, wann du zuhause bist und wann du dich woanders herumtreibst. Seine Frage hatte mein Freund mit einem vorwurfsvollen Ton gestellt und ich wusste genau warum. Alle, die mich seit Jahren kannten, hielten nichts davon, dass ich mittlerweile nicht mehr auf der Suche nach einer festen Beziehung war, sondern mich mit Bekanntschaften zufrieden gab. Aber sie hatten es auch aufgegeben, mich dauernd zu belehren. Sie hatten sich damit arrangiert, wie ich mich damit, dass ich keine eigene Familie mehr haben würde.

„Abudi hatte mein Auto. Der hat irgendeine kennengelernt und wollte sie nicht im Taxi abschleppen.". Sale lachte herzlich auf . „Der ist noch mehr verloren als du, ich sags dir."

Gemeinsam trainierten wir beide, wie so oft am Morgen. Doch meine Gedanken glitten immer wieder zu Marlene ab und dahin, dass wir uns heute Abend bereits wiedersehen würden. Ich fragte mich, wohin diese ganze Sache gehen würde. Sie war nicht darauf aus, mich rumzubekommen, so viel stand fest. Aber sie hatte trotzdem gewirkt, als hätte sie sich gefreut, dass ich sie wiedersehen wollte. Noch bevor ich zuhause richtig angekommen war, hatte sie mir eine Nachricht mit ihrer Adresse geschickt.

„Bruder?", wandte ich mich an Sale.

„Was gibts? Ich merk doch, dass du heute nicht ganz da bist, du drückst weniger als meine Freundin."

„Ich geb dir gleich. Aber du hast Recht. Ich war heute Nacht nicht zuhause. Ich habe jemanden kennengelernt gestern Abend, eine Freundin von Kontra."

„Und jetzt willst du darüber philosophieren wie sie dir einen geblasen hat?", unterbrach er mich.

„Gott, jetzt hör doch mal auf das immer in diese Richtung zu ziehen. Ich hatte nichts mit ihr, nada. Darum gehts nicht.". Ich setzte mich auf der Handelsbank auf und warf meinem Kumpel hinter mir einen bösen Blick zu.

„Sorry Raf, aber wenn du irgendwelche Frauen erwähnst wird es meistens nicht sehr tiefgründig."

„Ich weiß, aber dieses Mal nicht. Ich weiß aber auch nicht, was das heute Nacht war."

„Was habt ihr gemacht?", fragte mich Sale jetzt aufmerksamer.

„Wir haben uns draussen zufällig getroffen und dann unterhalten. Und ihre Geschichte ist fast wie meine. Nur, dass sie Modedesignerin ist und keine Musik macht. Und als Abudi dann mein Auto brauchte, hat sie mir angeboten mich nach Hause zu fahren. Wir sind nicht direkt nach Hause, sondern haben uns am Kahlenberg unterhalten. Stundenlang, über Gott und die Welt. Ich hatte das seit Jahren nicht mehr, du weißt es selbst, egal ob Mann oder Frau. Aber es war, als würden wir uns ewig kennen.", beendete ich meinen Monolog. Sale sah mich aufmerksam an.

„Das klingt doch aber gut Raphael. Siehst du sie wieder?"

„Heute Abend schon, wir gehen essen.", gab ich zurück.

„Und worüber zerbrichst du dir jetzt den Kopf? Du kennst sie nicht mal 24 Stunden. Vielleicht hast du das verlernt. Aber lern sie erstmal in Ruhe weiter kennen. Trefft euch heute Abend und schau, was kommt."

„Aber was soll das? Ich werde sicher keine Beziehung mit irgendwem eingehen und fürs unverbindlich rummachen haben wir schon zu krasse Gespräche geführt. Was mach ich da also heute Abend? Mir eine beste Freundin suchen?", fragte ich Sale schnaubend.

„Ah Raf, ich kenne niemanden, der so verkopft ist wie du. Du gehst da heute Abend hin und guckst, ob sich dein Bild von ihr bestätigt oder ob du gestern Nacht nicht doch irgendwas geschmissen hattest. Und wenn ihr euch versteht, dann guckt ihr weiter. Hör auf dich mit Händen und Füßen gegen alles zu wehren, was dir nahe kommt. So warst du nie."

Und damit machte er sich auf den Weg zur Umkleide und ließ mich sprachlos zurück. 

10 Stunden später saß ich im Auto, auf dem Weg zur Adresse, die Marlene mir geschickt hatte. Die Gegend war nicht sonderlich schick, aber auch weit weg von Fünfhaus. Genau mit so etwas hatte ich auch gerechnet. Ich parkte meinen Wagen in der zweiten Reihe und hoffte, dass niemand mein Kennzeichen bemerken würde. In Berlin konnte ich einigermaßen anonym leben, aber in Wien war die ganze Sache leider ein wenig anders. Aber in dem Moment ging die Tür zum Wohnhaus neben mir auch bereits auf und Marlene trat heraus. Vermutliche starrte ich sie wie ein Idiot an, denn ich konnte es nicht anders sagen, sie war einfach eine miese Bombe. Im Gegensatz zu heute Nacht trug sie ihre Haare offen, ihre blonden Haare fielen ihr über die Schulter. Sie trug ein hautenges, schwarzes Kleid, dass einen Beinschlitz hatte, der nicht zu viel und nicht zu wenig zeigte. Sie sah wahnsinnig sexy aus, aber trotzdem elegant. 

Ich stieg aus dem Auto aus, um sie zu begrüßen und ihr die Tür aufhalten zu können.

„Hallo Raphael, du siehst gut aus.", begrüßte sie mich und zog mich in eine Umarmung.

„Und du erst, Wahnsinn.", gab ich an ihrem Ohr zurück.

Aber schneller als ich gucken konnte hatte sie sich von mir losgemacht und war dabei sich in meinen Wagen zu setzen.

„Nun komm schon Ragucci, beeil dich und hör auf die Straße zu sperren wie ein Proll.", pöbelte sie mir bereits mit ihrer ehrlichen Art entgegen. Ich schloss ihre Tür und ging mit einem Lachen um das Auto herum zu meiner Seite. Das konnte ja ein Abend werden.

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