Marlene
In der Nacht hatte ich erstaunlich gut geschlafen, obwohl oder weil Raphael mich die ganze Zeit über fest im Arm gehalten hatte. Hatte ich sonst häufig Probleme mit dem Einschlafen, weil mir noch tausend Gedanken vom Tag, von der Arbeit oder sonst welchen Dingen durch den Kopf gingen, konnte ich mich dieses Mal einfach erholen. Ziemlich früh weckte mich dennoch das Geräusch der Kaffeemaschine und ich erhob mich aus dem großen Bett in Raphaels Schlafzimmer, um zu ihm in die Küche zu gehen. Oberkörperfrei und mit einer schwarzen Jogginghose stand er an der Theke seiner Küche und bemerkte nicht, wie ich von hinten auf ihn zutrat und seinen Rücken umarmte. Er zuckte erschrocken zusammen, bevor er seine Hände auf meine legte und sich in der Umarmung herumdrehte. „Guten Morgen, ma belle.", begrüßte er mich und wir standen noch einige Augenblicke so da, seine Hand auf meinem Hinterkopf hielt er mich bei sich.
„Tut mir leid, dass ich dich so früh wecken musste, aber ich muss in einer Stunde los."
„Ibiza, hm?"
„Genau, zwei Wochen."
„Das ist lange Rapha."
„Ich weiß, aber das Herumreisen ist Teil meines Jobs.", sagte Raphael und löste sich aus der Umarmung, um sich erneut dem Kaffee und dem restlichen Frühstück zuzuwenden. Ich sprang währenddessen auf die Anrichte und schaute ihm dabei zu.
„Weiß ich doch. Und eigentlich kommt es mir ganz recht, mein Kalender ist in den nächsten Wochen auch bis zum Anschlag voll."
Gemeinsam setzten wir uns an den Esstisch, ich in seinem zu großen Shirt, er noch immer Oberkörperfrei und mit seinen Haaren offen und ich erwischte mich dabei, wie ich ein wenig traurig wurde, dass ich auf unser nächstes Treffen noch mindestens zwei Wochen warten musste. Auch, wenn zwischen uns noch nichts gelaufen war und ich mir eigentlich geschworen hatte, mich in Nichts verrennen zu wollen, musste ich mir eingestehen, dass die letzte Nacht etwas verändert hatte; die Nähe zwischen uns war viel tiefer gegangen als jeder Sex hätte sein können.
Dennoch standen wir wenig später in seiner Tiefgarage, er mit 2 Koffern und ich mit dem Schlüssel für meinen Wagen in der Hand. Hier würden sich unsere Wege fürs Erste trennen.
„Komm schon her Marlene.", sagte Raphael und zog mich an sich in eine feste Umarmung. „Das war ein sehr schöner Abend.", flüsterte er mir ins Ohr.
„Fand ich auch Rapha, Dankeschön."
Viel zu schell löste er sich aus der Umarmung, aber ich wusste, dass wir das schon viel zu lange herausgezögert hatten.
„Ich ruf dich an, okay?", sprach er und zog mich noch einmal am Nacken heran, um mir einen Kuss auf die Stirn zu drücken.
„Pass auf dich auf.", verabschiedete auch ich mich bei ihm und wir beide machten uns auf den Weg in unsere Autos und fuhren nacheinander aus der Garage heraus, er nach links und ich nach rechts.
Eine Woche später zog ich die Tür meiner Wiener Wohnung hinter mir zu. Ich war vor ein paar Tagen wieder nach Österreich geflogen, hatte hier zahlreiche Termine für eine neue Kollektion und war in den letzten Stunden kaum zum Atmen gekommen. Trotz der stressigen vergangenen Tage hatte ich beinahe täglich am Abend mit Raphael telefoniert, meist hatte er mich angerufen, wenn er zwischen den Drehs tagsüber und den Abenden mit dem Rest der Crew oder dem Feiern gehen eine Verschnaufpause hatte. Er erzählte mir von allem, was sie den Tag über getrieben hatten und ich konnte meinen Frust bei ihm ablassen, wenn mir einer der Manager im Meeting mal wieder mit seinem schnöseligen Getue auf die Nerven gegangen war. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht das ein oder andere Mal seine Story angesehen hätte oder die von Bonez oder Shaho. Beim nächsten Treffen würde ich aufpassen müssen, nicht die Namen seiner Freunde, die ich eigentlich gar nicht kennen dürfte, zu erwähnen, und so meine etwas zu gut gewordenen Stalker-Skills zu enttarnen. Wenn ich mir die vielen Videos der Jungs vom Feiern ansah, wurde mir schon ein wenig mulmig. Aber ich versuchte mich nicht zu sehr hereinzusteigern, Raphael und ich waren weder zusammen, noch hatten wir irgendetwas ausgemacht.
Heute hatte er bisher noch nicht angerufen und deshalb setzte ich mich zunächst mit meinem gerade gelieferten Sushi auf den Balkon in die Abendsonne. Auf Insta sah ich, dass Rapha bereits ein Video in seiner Story verlinkt hatte. Waren sie doch schneller mit dem Dreh fertig? Ich klickte auf den Link und das Video zu „Sommer" startete. Bereits nach wenigen Sekunden verging mir jedoch der Appetit auf mein Sushi. Raphael lag mit zwei halbnackten Frauen im Bett, man sah seine Hände auf ihren Ärschen und wie sie andeuteten ihn zu küssen, bevor die nächste Szene einsetzte. Schnell schloss ich das Video und legte das Handy mit zitternden Händen beiseite, mein Kopf wie leer gefegt. Mir war klar gewesen, dass Raf Camora und Bonez in ihren Videos keine Heiligen waren, aber das, was ich gerade gesehen hatte, ging für mich weit am guten Geschmack vorbei. Und nach den letzten Tagen mit ihm und unseren Gesprächen über genau dieses Thema, war so ein Video das letzte, womit ich gerechnet hätte.
Ich spürte, wie sich die altbekannte Mauer um mein Herz wieder aufrichtete. In viel zu kurzer Zeit hatte ich das, was zwischen Raphael und mir aus dem nichts entstanden war, an mich rangelassen und ohne es zu merken, hatte ich mir vielleicht doch erhofft, dass er derjenige war, der nach langem wieder einen Platz in meinem Leben bekommen könnte. Doch die Bilder, die ich gerade gesehen hatte, bestätigten das Bild von ihm, vor dem ich mich am Anfang gefürchtet und das mich misstrauisch gemacht hatte, nachdem er mir am Telefon und bei unseren Treffen ein ganz anderes Bild von sich selbst vermittelt hatte, und zeigte mir, dass er scheinbar doch nicht ehrlich mit mir war.
Plötzlich vibrierte mein Handy neben mir. Ich warf mit einer bösen Vorahnung einen Blick nach unten und wie erwartet erschien Raphaels Name auf dem Display.
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Untenable
FanfictionMarlene war eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die seit Jahren unabhängig war - vor allem von Männern. Und Raphael Ragucci hatte es seit mindestens genau so vielen Jahren bereits aufgegeben, daran zu glauben, dass er eines Tages wieder eine normale Be...