Den Anruf meiner Schwester hatte es wirklich gegeben. Aber zurückrufen wollte ich sie nicht. Es war mittlerweile kurz nach 0 Uhr und sie würde mit Sicherheit schon schlafen. Bella, meine 2 Jahre jüngere Schwester, hatte ein ganz anderes Leben als ich. Sie war immer die Kleinere, Ruhigere und Vernünftigere. Sie hatte einen kleinen Sohn, bereits vor Jahren geheiratet und lebte voll und ganz für ihre Familie. Bella konnte nie verstehen, wieso ich mich so auf meine Karriere fokussieren wollte, dass ich nebenbei nicht einmal die Zeit für ein Beziehung hätte. Doch obwohl wir so verschieden waren, waren wir immer ein Herz und eine Seele. Ich würde sie morgen früh zurückrufen.
Der eigentliche Grund, warum ich von den anderen weggegangen bin, war, dass ich für einen kurzen Moment der Menschenmasse entkommen wollte. Auch, wenn ich mich daran gewöhnt hatte, immer mit vielen Leuten zusammenzuarbeiten, mochte ich es eigentlich am Liebsten für mich zu sein. Und da es nicht das erste Mal war, dass ich solch eine Veranstaltung besuchte, kannte ich meistens schon die Orte, an die ich flüchten konnte. Dieses Gebäude hatte zum Glück einen, wenn auch nicht ganz legalen, Zugang zum Dach, den eigentlich niemand kannte. Also hatte ich mich über das Treppenhaus auf den Weg nach ganz oben gemacht und saß nun auf einer kleinen Stufe auf dem Dach, mit Blick über ganz Wien. Ich erinnerte mich daran, wie ich vor Jahren ganz alleine hierhergezogen war, weg vom Berlin, wo meine Freunde und meine Schwester lebten. Ich ließ alles hinter mir, um meinem Traum nachzugehen, Design zu studieren. In den letzten sieben Jahren hatte ich mir beinahe jeden Traum erfüllen könne, auch die, von denen ich niemals dachte, dass sie Wirklichkeit werden könnten. Viele Menschen hatten mich auf meinem Weg begleitet und waren an meiner Seite gewesen. Und andere waren heute nicht mehr bei mir, von denen ich es vor sieben Jahren niemals gedacht hätte...
Noch während ich ganz in meinen Gedanken versunken war, hörte ich, wie sich hinter mir die Tür öffnete. Verwundert drehte ich mich um, ich hatte nicht damit gerechnet, dass doch noch jemand hierher kommen würde. Und ganz zu meiner Überraschung erkannte ich, dass es Raphael war, der ebenfalls auf das Dach stieg. „Was machst du denn hier oben?", fragte er mich verwundert. „Dasselbe könnte ich dich fragen, ich dachte der Zugang zum Dach war mein Geheimtipp."
„Falsch gelegen, ich verzieh mich immer hier hin.", antwortete Raphael, als er sich neben mich auf die Stufe setzte.
„Kein Fan von solchen Veranstaltungen?"
„Nein", meinte ich schmunzelnd „Max musste mich Freigetränken locken. Ich mag dieses Getue von den Leuten an solchen Abenden nicht. Merkt doch jeder, dass sich hier eigentlich niemand ausstehen kann."
„Stimmt. Ich versuch' auch immer, dem aus dem Weg zu gehen, aber man kommt leider nicht drum rum."
Raphael und ich genossen für einen Moment die Stille, die hier oben herrschte. Ich betrachtete ihn kurz von der Seite. Mittlerweile hatte er sich eine dünne Jacke übergezogen und schien trotzdem noch zu frieren, obwohl es eine laue Sommernacht war. Er kramte in seiner Jackentasche und zog eine Packung Zigaretten hervor. „Auch eine?"
„Gern", antwortete ich und nahm sie entgegen. Dabei fiel mir sein Tattoo auf dem Handrücken auf, zwei miteinander gekreuzte Federn. Er hielt mir das Feuer entgegen und zündete sich danach seine eigene Kippe an.
„Hast du eigentlich mittlerweile wieder eine Wohnung hier in Wien oder machst du immer noch auf Udo Lindenberg von Österreich und wohnst im Sofitel?", fragte ich Raphael. Seine Augen blitzten für einen kurzen Moment auf als er seinen Blick auf mich richtete, bevor er sah, dass ich schmunzelte und auflachte.
„Hab ich hier ein Groupie getroffen oder wo erzählt man sich sowas über mich?"
„Ich muss mich outen, dass ich weniger über dich weiß, als du es vermutlich gewohnt bist. Max hat mir viel erzählt, vor allem damals, als ihr eure Songs zusammen hattet. Aber außer den Liedern von dir, um die man nicht rum kommt, weiß ich nichts.", antwortete ich dem Mann neben mir auf seine Frage.
„Das ist vielleicht auch gar nicht so schlecht. Ich treffe mittlerweile selten Leute, die nicht mehr über mich wissen, als meine eigene Mutter. Man kann das nicht sagen, ohne eingebildet zu wirken, merke ich grad.", kurz lachten wir beide auf und lächelten uns an. „Mit Max muss ich wohl nochmal reden. Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ich hab auch hier wieder eine Wohnung. Die Zeiten im Sofitel sind vorbei. Mit allem drum und dran."
„Ah ja?", reagiere ich. Ich hab keine Ahnung was das Drum und Dran beim Sofitel darstellen soll, aber nach Max Erzählungen mit Sicherheit viel Party, Frauen und Drogen.
„Ja. Ich pendel gerade zwischen Berlin und Wien. Und im Winter bin ich in Dubai."
„Und dann fragst du dich, warum du abgehoben wirkst?", lache ich.
„Ey, Dubai ist garnicht so, wie man sich das vorstellt! Wirklich, ich dachte das auch immer. Aber es kommt einfach drauf an, wo man sich rumtreibt. Wie überall auf der Welt."
„Was genau machst du denn überhaupt in Wien, du hast eine Firma, meintest du?", wendet Raphael sich dann an mich.
„Ja genau, ich hab vor mehreren Jahren hier meine Modefirma gegründet, nachdem ich zum Studium hergekommen war. Ich bin zwar auch im Design involviert, aber dafür ist immer weniger Zeit. Das Management und alles nimmt mich komplett in Anspruch. Wir haben klein angefangen hier in Wien, mit wenigen Leuten, aber mittlerweile haben wir einen neuen Standort auch in Berlin, mehr Mitarbeiter und produzieren auch fürs Ausland."
Er hatte mir aufmerksam zugehört.
„Krass, das hast du alles alleine aufgebaut? Ich hab auch mal eine Modekollektion rausgebracht und allein bei der hab ich gemerkt, wie viel dahinter steckt."
„Ja, ich bin damals alleine nach Wien gekommen und hab hier mein Glück versucht.", antworte ich ihm. Raphael musterte mich einen Moment schweigend.
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Untenable
FanfictionMarlene war eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die seit Jahren unabhängig war - vor allem von Männern. Und Raphael Ragucci hatte es seit mindestens genau so vielen Jahren bereits aufgegeben, daran zu glauben, dass er eines Tages wieder eine normale Be...