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Ich war nun seit genau 72 Stunden hier und ich hasste es. Meine Mutter, Aurora, hatte mich darüber aufgeklärt, dass heute im Laufe des Tages auch die anderen Anwohner der Akademie zurückkehrten. Alle drei Monate schloss die Akademie für eine Woche, in der der gesamte Ausbildungsplan scheinbar neu formiert wurde.

Aurora war hier an der Schule Mentorin. Das hatte ich allerdings auch erst vor zwei Wochen erfahren. Davor wusste ich nicht einmal, dass sie noch lebte. Wäre mein Vater zwei Monate später verschwunden, hätte ich es vermutlich nie erfahren – aber da ich erst in zwei Monaten achtzehn wurde und solange noch bei einem Erziehungsberechtigten wohnen musste, hatte mich meine Tante zu meiner Mutter geschickt. Ich hatte mich natürlich gesträubt, weil ich diese Frau überhaupt nicht kannte, und meine Tante regelrecht angefleht, mich diese lächerlichen zwei Monate noch bei ihr wohnen zu lassen. Erfolglos.

Ich betrachtete die anderen zwei Betten meines Zimmers. Sie waren abgezogen und ordentlich gemacht, und auch die Schränke und Schreibtische waren bis auf ein paar Dekoartikel und Dinge für den Unterricht freigeräumt. Mein Blick blieb an einer schwarzen Mappe auf dem Schreibtisch links von der Tür hängen.

Am ersten Tag hatte meine Neugierde gesiegt und ich hatte einen Blick hinein geworfen. Nicht, dass ich gerne in den Privatangelegenheiten fremder Menschen herumschnüffelte, allerdings ging ich davon aus, dass dies eine Unterrichtsmappe war, und Aurora hatte mir nicht verraten wollen, was an dieser Akademie überhaupt gelehrt wurde. Es war eine private Akademie und fast alle Studenten waren zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahren. Das war bereits alles, was ich herausgefunden hatte. Online war die Akademie gar nicht zu finden, was mich nur umso neugieriger machte.

Die Unterrichtsmappe meiner Mitbewohnerin hatte mir nur noch mehr Fragezeichen aufgezeigt, denn die Sprache, in der sie beschrieben wurde, hatte ich noch nie gesehen. Und erneut hatte ich auch online keine Übersetzung finden können.
Ich seufzte und vertiefte mich wieder in mein Buch. Das hatte ich mir an dem Tag gekauft, an dem Vater verschwunden war. Ich hatte ihn noch mit einem Winken verabschiedet, während er mit einem Kunden telefonierte. An dem Tag hatte er Homeoffice gemacht.

Als ich vom Buchladen wiederkam, war meine Welt zusammengebrochen. Unser Zuhause war heillos verwüstet, Tische zerbrochen, sogar Wände und Teile der Decke heruntergekommen. Auf dem Herd war das Nudelwasser übergekocht. Und Vater war weg.

Die Polizei fand nichts. Keine Spuren eines Einbruchs oder Kampfes, keine Fingerabdrücke außer die meines Vaters und mir. Es war ihnen unerklärlich, was passiert war. Allem Anschein nach musste mein Vater selbst alles verwüstet haben und dann zur Tür hinausspaziert sein, was natürlich vollkommener Blödsinn war und auch die Polizei glaubte das nicht wirklich.

Etwas klopfte gegen die Wand und ich zuckte zusammen. Meine Zimmernachbarin war wohl angekommen. Ich starrte auf die Buchseite, die ich nun schon zum dritten Mal las und deren Inhalt ich trotzdem nicht wusste, und klappte das Buch resigniert zu.

In derselben Sekunde öffnete sich auch die Tür zu meinem Zimmer und zwei junge Frauen traten ein. Sie blieben sofort wie angewurzelt stehen und starrten mich an.

„Hallo. Ich bin Kaia", sagte ich leise und versuchte mich an einem Lächeln. Es fühlte sich falsch an. Ich hatte seit Wochen nicht mehr ehrlich gelächelt.

Die beiden sahen aus, als hätte man sie direkt auch einem Magazin für Supermodeln entnommen. Beide waren gertenschlank, groß und bildschön. Eine war blass, hatte hüftlange, blonde Haare und strahlend hellblaue Augen. Die andere war gebräunt, als hätte sie in der letzten Woche Urlaub in der Karibik gemacht, und hatte schulterlange, braune Locken, Sommersprossen und grüne Augen.

Die Blonde fing sich zuerst wieder und erwiderte mein Lächeln deutlich weniger verkrampft als ich. „Hallo... wir hatten keine neue Mitbewohnerin mitten im Jahr erwartet."

Chained AshesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt