„Lysander würde nicht wollen, dass du dich für ihn in Gefahr begibst. Du kannst jederzeit umkehren, wenn es dir zu viel wird. Bitte denk daran. Niemand wird es dir vorwerfen", beschwor sie mich. „Für deinen Vater stehst du an erster Stelle."
Ich nickte, umarmte sie noch ein letztes Mal fest und wandte mich dann zu meinem Großvater, der mich aufmunternd anlächelte. „Du schaffst das, kleiner Dickkopf."
Ich konnte nicht anders, als das Lächeln zu erwidern. So hatte er mich schon als Kind oft genannt und immer dazu gesagt, dass ich das von ihm haben musste. Ich war unfassbar dankbar, dass er in das Leben meiner Großmutter getreten war und die Rolle des Vaters und später Großvaters übernommen hatte. Einen besseren hätte ich mir nicht wünschen können. „Danke, Opa."
Es dauerte keine zehn Minuten mehr, bis das Taxi kam. Sylas hielt mir die Tür auf, machte sie hinter mir wieder zu und stieg selbst ein. Für eine unangenehm lange Weile sagte keiner von uns etwas. Ob wir uns gerade schlichtweg nichts zu sagen hatten oder zu sehr in unseren eigenen Gedanken versunken waren, konnte ich nicht festlegen.
Bis auf meine Frage, wie wir nach Italien kommen würden – was er mit einem knappen „Flugzeug" beantwortete, als wäre das ganz selbstverständlich – sprachen wir tatsächlich nichts, bis wir schließlich in Italien landeten.
Ich war vorher erst einmal in meinem Leben geflogen. Damals hatten meine Eltern, meine Großeltern und ich Urlaub in Norwegen gemacht. Obwohl ich damals gerade einmal sieben Jahre alt gewesen war, konnte ich mich heute noch ganz genau an die wunderschönen Nordlichter erinnern, wie sie in sanften Bewegungen über unseren Köpfen geschillert hatten. Seitdem hatte ich mir oft gewünscht, mal wieder zu fliegen.
Als Kind hatte ich mich Wochen zuvor schon darauf gefreut und all das als furchtbar aufregend empfunden. Heute starrte ich bloß auf die dichte Wolkendecke und wurde mir mit jeder Sekunde mehr bewusst, dass mein Vater überall sein konnte. Es gab nicht nur diese riesengroße Welt hier unter mir, sondern noch vier andere, über deren Ausmaß ich keine Ahnung hatte. Wie sollte ich ihn jemals finden?
Haltsuchend griff ich nach Sylas' Arm. Er legte wie schon zuvor seine freie Hand über meine und streichelte mit dem Daumen über meinen Handrücken. Es war eine Geste, die sich bei ihm inzwischen so vertraut anfühlte, als würden wir uns schon viel länger kennen. Dennoch entdeckte ich in der Art, wie er mich ab und zu unauffällig von der Seite musterte, ein gewisses Unbehagen, und ich war mir sicher, dass er die Warnung meiner Großmutter mitbekommen hatte.
Wie sehr waren seine Sinne ausgeprägt? Mein prüfender Blick traf den seinen, als er mir erneut einen Seitenblick zuwarf. Der Ausdruck in seinen Augen erzählte mir so viel, doch mir war, als würde er eine andere Sprache sprechen.
Keiner von uns beiden war bereit, unser seltsames Schweigen zu brechen, bis wir in einem Taxi saßen. Sylas sprach fließendes Italienisch mit dem Taxifahrer, was mich dazu veranlasste, ihn erstaunt anzusehen. Sobald sie ihr kurzes Gespräch beendet hatten und der Wagen losrollte, fragte ich: „Du kannst Italienisch?"
„Alle Mitglieder der Herrscherlinie jeder Ratsspezies muss alle Ratssprachen beherrschen", gab er schulterzuckend zurück. Mein Gesicht war offenbar ein Fragezeichen, denn er fuhr einige Sekunden später unaufgefordert fort: „Ratsspezies sind alle Spezies, die einen dauerhaften Platz im Rat der Welten eingenommen haben oder zukünftig einnehmen wollen, und es gibt vier Ratssprachen."
„Was für Sprachen?"
„Italienisch, Englisch, Kona und W."
„W?"
„Die klanglose Runensprache der alten Götter. Die Bücher aller Herrscherhöfe werden traditionell in W geschrieben, aus Respekt und Dankbarkeit für ihre Schaffung. Es ist eine Tradition, die dem Rat sehr wichtig ist."
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Chained Ashes
FantasyAls Kaias Vater spurlos verschwindet, wird ihr Leben auf den Kopf gestellt. Seine Spuren führen sie an einen Ort, an dem sie ganz offensichtlich nicht erwünscht ist und schnell wird ihr klar, dass sie eine Zielscheibe auf dem Rücken trägt. Denn sie...