Als ich aufwachte, fühlte ich mich kein bisschen ausgeruht, obwohl es bereits Morgen war. Ich griff nach meinem Handy, um auf die Uhr zu schauen, wobei mir meine Arme ins Blickfeld stachen. Der Verband war weg und dort, wo vorher alles weggeschürft war, war meine Haut etwas dunkler und rötlich verfärbt. Aber die Verletzungen an sich waren verheilt. Ich tastete staunend meine Arme und Hände ab. Wie konnte das sein?
„Flipp nicht aus", hörte ich Sennas Stimme von ihrem Bett aus.
„Warum bin ich geheilt?", fragte ich und richtete mich auf.
„Kira hat Heilfähigkeiten. Sie dachte sich, dass du sicher nichts dagegen hast, wenn sie dir und Chestnut ein bisschen hilft", erklärte sie.
Mein Blick fiel auf Chestnut, der es sich auf dem Vorleger vor Kiras Bett bequem gemacht hatte und tiefenentspannt vor sich hin döste. Kira selbst war nicht hier.
„Sie ist frühstücken. Ich wollte nicht, dass du alleine aufwacht", sagte Senna, die meinem Blick gefolgt war. Sie streckte sich ausgiebig und es hörte sich an, als würde sie jeden einzelnen Wirbel nacheinander knacken lassen.
Ich ging erst einmal heiß duschen. Chestnut begleitete mich natürlich und legte sich vor die Duschkabine. Er war schon immer am liebsten nah bei mir geblieben, aber so anhänglich wie jetzt war er noch nie gewesen. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Eigentlich war ich sogar froh darum, denn ich hatte ihn wirklich vermisst.
Nach der Dusche fühlte ich mich wie neu geboren. Senna hatte sich derweil fertig gemacht und wir gingen ebenfalls frühstücken. Auf dem Weg zum Büffet war Chestnut die Attraktion der Burg. Alle drehten sich zu ihm um, freuten sich oder sprachen mich sogar auf ihn an. Der Mastiff schien die Aufmerksamkeit zu genießen, denn er kam aus dem Brummen gar nicht mehr heraus.
Mir fiel auf, dass sich hier niemand durch sein Gebrumme gestört fühlte. Entweder lag das daran, dass sie alle sein gutes Gemüt erkannten, oder aber sie empfanden den riesigen Hund einfach nicht als Bedrohung. So oder so war es erfrischend für mich, nicht ständig erklären zu müssen, dass er nicht gefährlich oder aggressiv war.
Maxine, Sylas, Colton und Kira saßen an unserem üblichen Tisch und begrüßten uns freudig. Senna und ich holten uns etwas zu essen und gesellten uns zu ihnen. Chestnut legte sich unter den Tisch. Seine entspannte Ader war wirklich Gold wert.
Für eine Weile erschien mir mein Leben wunderbar normal. Ich saß gemütlich mit meinen Freunden zusammen, aß und redete. Zwischendurch streichelte ich Chestnut, der von jedem von uns hin und wieder eine Kleinigkeit zu essen abstaubte. Ich genoss diesen Moment sehr, obwohl meine Gedanken zwischendurch immer wieder abdrifteten und mein Blick zu dem Tisch an der anderen Wand rutschte.
Weder Nathan noch der Rest seiner Gruppe ließen sich blicken. Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte. Er hatte mich bedroht, hatte mich dann halbherzig vor dem Aufbruch gewarnt und mich nichtsdestotrotz wissentlich in den Tod laufen lassen. Dass ich mich nicht mit ihm anlegen würde, hatte auch schon vor der Sache mit den übernatürlichen Geschöpfen keiner Diskussion bedurft. Aber nun konnte ich gar nicht mehr einschätzen, wie er zu mir stand. Wollte er immer noch, dass ich verschwand? In dem Fall würde er mich vermutlich nicht warnen. Andererseits hatte er einen nicht vernachlässigbaren Teil zu meiner Flucht beigetragen, indem er mir diese Nummer gab. Von seinen Launen konnte man durchaus ein Schleudertrauma bekommen. Frustriert stocherte ich in meinem Rührei herum.
„Du nimmst das besser auf, als ich erwartet habe", sagte Colton irgendwann.
„Ich warte noch auf den Nervenzusammenbruch", erwiderte ich mit einem halbherzigen Lächeln. Das war die Wahrheit. Ich hatte immer noch das Gefühl, als steckte ich in einem leichten Schockzustand fest. Wahrscheinlich war mein Gehirn so sehr mit der nicht enden wollenden Flut an neuen Informationen und Erschütterungen meines Weltbilds beschäftigt, dass meine Emotionen nicht mehr mitkamen. Anders konnte ich mir meine Akzeptanz der Dinge selbst nicht erklären.
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Chained Ashes
FantasyAls Kaias Vater spurlos verschwindet, wird ihr Leben auf den Kopf gestellt. Seine Spuren führen sie an einen Ort, an dem sie ganz offensichtlich nicht erwünscht ist und schnell wird ihr klar, dass sie eine Zielscheibe auf dem Rücken trägt. Denn sie...