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Nathan holte einen Erdnussriegel aus einer Schublade, einen Pullover aus einer anderen und warf mir beides zu. In einer ungelenken Bewegung fing ich ihn, was mein Körper sofort mit erneuten Schmerzen quittierte. „Iss. Und dann gehen wir", befahl er.

Ich sah schräg aus dem Fenster. Es war zwar dunkel hier unter den dichten Bäumen, aber definitiv Tag. War er am Ende doch kein Nachtwandler? So, wie Maxine sich von ihm herumkommandieren ließ, war es mir ein Rätsel, was für ein Geschöpf er noch sein könnte. Ein Nachtwandler war praktisch das Einzige, das in meiner kargen Auswahl übriggeblieben war. Maxines gescheiterte Warnung an Nathan beunruhigte mich.

„Warum bin ich hier?", fragte ich zögerlich. „Bei dir, meine ich."

„Als Absicherung."

„Wofür?"

„Damit die Verräterin sich benimmt und deine Freunde nicht auf dumme Gedanken kommen. Eure bloße Anwesenheit sorgt für genug Ärger."

Das klang, als hätte er im Grunde nicht vor, mir etwas anzutun, solange niemand aus der Reihe tanzte. Vielleicht nutzte ich ihm lebend nun doch mehr als tot, was eine gute Nachricht war, obwohl das bedeutete, nun seine Spielfigur zu sein.

Dass er Maxine eine Verräterin nannte, überraschte mich nicht, bestärkte mich aber wieder mehr in der Annahme, dass er ein Nachtwandler war. Dass sie und Sylas gut miteinander auskamen, musste ihm ein gewaltiger Dorn im Auge sein. Für mich war ihre Freundschaft ein Zeichen, dass dieser Krieg irgendwann ein Ende finden würde und beide Arten friedlich miteinander existieren konnten. Nathan sah das wohl anders.

Sobald ich den Riegel gegessen hatte, nickte er Richtung Tür. Chestnut ließen wir hier. Stumm folgte ich ihm durch die Siedlung, die völlig ausgestorben schien und bis auf einige, hölzerne Hütten in unregelmäßigen Abständen nichts zu bieten hatte. Der Wind, der mir entgegenschlug, war nicht annähernd so kalt wie Nathans Nähe. Ich fragte mich, ob er das Feuer gemacht hatte, um seine eigene Kälte zu vertreiben. Er selbst schien nicht zu frieren, denn nachdem wir eine Weile gegangen waren, krempelte er sogar die Ärmel seines Pullovers etwas hoch. Ich dagegen schlotterte.

Die dunkelgraue Wolkendecke versprach neuen Schnee. Vermutlich verließ Nathan den Schutz des Waldes, weil keine Gefahr bestand, dass auch nur ein einzelner Sonnenstrahl seinen Weg auf die Erde finden würde. Er bewegte sich schnell, ohne hastig zu wirken. Bis wir wieder am See ankamen, war ich völlig außer Atem. Er nicht.

Am Ufer sah ich die Zeugnisse meines kläglichen Fluchtversuchs in Form von hellroten Flecken im Schnee. Die Eisdecke war deutlich dünner und unregelmäßiger als zuvor. Unzählige, breite Risse waren noch zu sehen und verschobene Eisplatten vom Vortag waren schief hervorstehend wieder festgefroren. Alles sah sehr instabil aus.

Skeptisch schielte ich zu Nathan hinüber, der das Eis betrat, ohne zu zögern. Er wartete nicht auf mich. Wahrscheinlich war der Gedanke, ich könnte mich ihm widersetzen oder weglaufen, so abwegig, dass es ihm gar nicht in den Sinn kam.

Ich straffte meine Schultern und ging genau hinter ihm. Er war deutlich schwerer als ich, also würde ich auf seiner Spur wahrscheinlich nicht einbrechen. Je näher wir dem Grab kamen, desto dünner wurden meine Nerven. Meine Gedanken drifteten so sehr ab, dass ich beinahe gegen Nathan stieß, als er vor dem Eingang stehenblieb.

„Du gehst vor", sagte er bloß und sah mich abwartend an.

Mit großen Augen erwiderte ich seinen Blick, während die Luft um mich herum plötzlich nicht mehr genug Sauerstoff zum Überleben bot. Panisch schüttelte ich den Kopf und machte einen Schritt zurück. Mein Gehirn spielte pausenlos die widerhallenden Schreie ab, die sich in meinen Geist gebrannt hatten. Alles in mir wehrte sich dagegen, jemals wieder einen Fuß auch nur in die Nähe jeglicher Gräber zu setzen.

Chained AshesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt