Knappe sieben Stunden später holte ich meinen Koffer vom Rücksitz des schwarzen Wagens. Die Nummer, die Nathan mir gegeben hatte, war kein Taxi gewesen , sondern der angestellte Fahrer der Akademie. Dieser hatte mich bis in die nächste Stadt gebracht, und von dort aus war ich mit der Bahn in die nächstgrößere Stadt in meiner Nähe gefahren. Für den Rest des Weges hatte ich mir dann noch ein Taxi gerufen.
Das Haus meiner Tante stand in derselben Straße wie unseres, nur etwa hundert Meter weiter. Deswegen brachte ich erst meinen Koffer nach Hause, bevor ich mit einem seligen Lächeln auf den Lippen zu meiner Tante lief.
Chestnut schien mich schon zu erwarten, denn sein massiger Kopf und eine Vorderpfote hingen über der Mauer zu Tante Bettys Garten, die man von der Straße aus sehen konnte. Ich öffnete ihr Hoftor, rannte die restlichen Meter bis zur Gartenmauer und nestelte am Schloss herum. Es gelang mir nicht, es zu öffnen, also begann ich zu klettern.
Als Kinder hatten meine Cousine und ich uns öfter nachts rausgeschlichen und waren über die hintere Mauer des Gartens geklettert. Dort ging ein kleiner Bachlauf direkt zwischen den Gärten entlang, einmal quer durch das Dorf. Wenn man den Bach hinauf lief, gelangte man nach etwa zweihundert Metern an den Rand des Dorfs, das an dieser Seite an weite Felder grenzte. Hinter den Feldern begann der Wald.
In den Sommermonaten, wenn das Gestrüpp am Bach am höchsten war, hatten wir immer Chestnut vorausgeschickt, damit er uns einen Pfad nieder trampelte. Ich musste lächeln, als ich daran dachte, und landete vor meinem Hund.
Er sprang um mich herum wie ein aufgeregter Welpe, obwohl er eigentlich schon in die Jahre gekommen war. „Chestnut, mein toller Junge", begrüßte ich ihn und ging auf die Knie, um ihn vernünftig kuscheln zu können.
Er roch wie immer nach Flusswasser und Erde, versetzt mit einer leichte Note des Parfums meiner Cousine. „Ich hab dich so vermisst", murmelte ich in sein Fell.
Chestnut brummte. Das hatte er schon von klein auf gemacht, wenn ihm etwas gefiel. Jemand, der ihn nicht gut kannte, konnte das leicht mit einem Knurren verwechseln. Das hatte schon für einige Missverständnisse in den letzten Jahren gesorgt.
Einmal hätte eine ältere Dame im Park fast einen Herzinfarkt bekommen, weil ich mit Chestnut auf dem Rasen gerangelt hatte. Seit tiefes Brummen dabei hatte sie glauben lassen, dass sie gerade Zeugin eines gefährlichen Hundeangriffs wurde und es hätte nicht viel dazu gefehlt, dass sie Chestnut verprügelte. Ihre Courage, sich nur mit einer Handtasche bewaffnet vor einem ausgewachsenen Mastiff behaupten zu wollen, hatte ich anerkennen müssen.
Ich hatte sie noch ein paar Mal im Park getroffen und ab und zu waren wir ein Stück zusammen gegangen. Ihre zwei Terrier-Mischlinge hatten sich auch überraschend gut mit Chestnut verstanden, der sonst von kleinen Hunden eher genervt war.
Irgendwann war sie nicht mehr aufgetaucht und ich hatte nie erfahren, was aus ihr oder ihren Hunden geworden war. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich nach ihr umzuhören, aber dann hatte Serena ihren Autounfall und seitdem war alles etwas komplizierter.
Ich hatte Vater nur noch selten alleine gelassen, wenn ich es nicht musste. Bis auf die Schule und gelegentliche Ausflüge zur Bücherei blieb ich bei ihm zu Hause, oder wir unternahmen gemeinsam etwas. Jedes Mal, wenn er alleine war, wirkte er ein bisschen gebrochener als zuvor und ich konnte spüren, dass er mich brauchte. Das war noch ein Grund mehr, warum er niemals freiwillig verschwinden würde.
„Kaia!", riss mich die aufgeregte Stimme meiner Cousine aus den Gedanken. Sie sprang von der Terrasse, flitzte über das kurze Rasenstück auf mich zu und warf sich beinahe schon auf mich. „Ich freu mich so, dich zu sehen!"
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Chained Ashes
FantasyAls Kaias Vater spurlos verschwindet, wird ihr Leben auf den Kopf gestellt. Seine Spuren führen sie an einen Ort, an dem sie ganz offensichtlich nicht erwünscht ist und schnell wird ihr klar, dass sie eine Zielscheibe auf dem Rücken trägt. Denn sie...