32

24 4 0
                                    

Mein Großvater öffnete mit seinem Hund an der Seite die Tür. „Wer ist da?", fragte er ins Halbdunkle. Seine Augen mussten noch schlechter geworden sein.

„Hey, Opa, ich bin es", gab ich mich zu erkennen.

„Kaia! Was für eine Überraschung zu diesen frühen Stunden!"

Ich umarmte ihn zur Begrüßung. Sylas hatte offenbar keine Zeit gehabt, meine Worte zu verdauen, denn er wirkte bei seiner Vorstellung etwas angespannt. Mein Großvater beäugte ihn eingehend, klopfte ihm aber beim Händedruck freundlich auf die Schulter. Das war für mich das Zeichen, dass sein erster Eindruck positiv war.

Meine Gro0mutter brauchte etwas, bis sie es die Treppen heruntergeschafft hatte. Sie strahlte mir bereits auf halber Strecke entgegen, obwohl es offensichtlich war, dass ich die beiden aus dem Bett geholt hatte. Ihre dunkelrot gefärbten, kurzen Locken standen in alle Richtungen ab und sie trug einen dicken, dunkelblauen Morgenmantel über ihrem Nachthemd. Mein Großvater hatte sich angezogen, bevor er zur Tür ging, aber das Hemd hing oben noch halb aus der Hose und er war beim Zuknöpfen um ein Loch verrutscht. Bobby, ihr alter, brauner Labrador, der schon immer ein paar Kilo zu viel auf den Rippen hatte, wirkte ebenso aufgescheucht. So ergab sich ein recht unharmonisches Gesamtbild, das mich bereuen ließ, nicht auf eine vernünftigere Uhrzeit gewartet zu haben.

„Guten Morgen, Oma", begrüßte ich auch sie mit einer Umarmung.

„Was für eine Freude, dich mal wieder zu sehen, mein Engel. Aber seit wann bist du eine Frühaufsteherin? Es ist gerade erst fünf Uhr durch, Und wer ist dieser junge Mann?"

„Entschuldigen Sie unsere frühe Ankunft. Mein Name ist Sylas", stellte Sylas sich vor und reichte ihr lächelnd die Hand. Meine Großmutter begegnete ihm mit vorsichtiger Freundlichkeit, was ich ihr nicht verübeln konnte. Ich würde ähnlich schauen, wenn Megan mit einem breitschultrigen Riesen im Gepäck heimkäme.

„Ist er dein Freund?", fragte sie mich direkt.

„Nein, Oma. Er passt auf mich auf. Wollen wir uns vielleicht setzen, damit ich dir das alles in Ruhe erklären kann?", lenkte ich das Gespräch in die richtige Richtung um.

„So schlimm, ja?", seufzte meine Großmutter und geleitete uns in ihr kleines, gemütliches Wohnzimmer. Über dem alten Ledersofa und dem Sessel hingen etliche, selbstgestrickte Decken und überall waren gestapelte Bücher. Selbst die Kaffeetasse vom Vortag, die neben einem Sessel auf einem Stapel thronte, hatte ein aufgedrucktes Buch. Die Beiden liebten es, zu lesen, und besaßen nicht einmal einen Fernseher.

Dafür aber einen edlen, mattschwarzen Schallplattenspieler, den meine Großmutter direkt im Hintergrund auflegte, während Sylas und ich uns schon auf das Sofa setzten.

„Oma... es ist wichtig, dass du mir jetzt die Wahrheit sagst. Es geht um Papas Sicherheit", begann ich zögerlich, sobald sie sich uns gegenüber im Sessel niedergelassen hatte. Sie nickte stirnrunzelnd und wartete darauf, dass ich fortfuhr, also atmete ich durch und fragte: „Wer war Rohan?"

Die Frage erwischte sie völlig unvorbereitet. Ihre Hand wanderte ganz langsam zu der Kette mit dem kleinen, goldenen Schützen, die sie schon immer getragen hatte. „Wie..."

„Papa würde niemals einfach so verschwinden und ich glaube, das alles hat etwas mit seiner Vergangenheit zu tun. Aber Aurora sagte, dass er nie darüber gesprochen hat. Tante Betty hat herausgefunden, dass mein richtiger Großvater Rohan hieß. Ich habe so sehr gehofft, dass du vielleicht weißt, wo mein Vater sein könnte. Bitte, Oma."

„Ich... das... meine Güte", sagte meine Großmutter und schlug mit plötzlicher Forschheit auf die Sessellehne. „Ich brauche einen Tee."

Überraschend schnell kam sie auf die Beine und humpelte Richtung Küche davon. Ich wollte aufstehen und ihr folgen, aber Sylas ergriff sanft mein Handgelenk und hielt mich zurück. „Gib ihr eine Sekunde", meinte er ruhig.

Chained AshesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt