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Es war bereits später Nachmittag, als ich wieder aufwachte und mich fühlte wie ein neuer Mensch. Ich streckte mich einmal von Kopf bis Fuß durch und ließ dabei mehr Knochen knacken, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Ich machte sogar drei halbherzige Yoga-Übungen, sowie ich es geschafft hatte, aufzustehen. Das Gefühl, meinen kompletten Körper wieder auf Werkszustand zurückzusetzen, war befreiend.

Mein Badezimmerbesuch dagegen fiel knapp aus. Ich kämmte mir bloß meine Haare und wusch mir das Gesicht. Das allein dauerte schon lange genug, denn auf meinem Kopf hatte sich ein nicht enden wollendes Nest aus Knoten gebildet.

Als ich schließlich an das Gästezimmer klopfte, brauchte Sylas keine zwei Sekunden, um zu öffnen. Er sah aus, als hätte er schon länger auf mich gewartet. Erleichterung und Ungeduld standen ihm gleichermaßen ins Gesicht geschrieben.

„Tut mir leid, dass ich jetzt erst komme. Ich habe die Pause echt gebraucht", sagte ich zerknirscht und lächelte ihn entschuldigend an. „Wir können los, wenn du möchtest."

„Ist schon okay", winkte er ab.

Still gingen wir den kurzen Flur entlang und sahen schon von der Treppe aus, dass meine Großmutter in der Haustür stand und nach draußen blickte. Sie musste unsere Schritte schon vernommen haben, denn sie erschrak nicht, als ich sie an der Schulter berührte.

„Oma?"

Mit einem Lächeln, dass jedmögliche Emotion außer Freude in sich trug, drehte sie sich zu mir um. „Ich hoffe, Lysander geht es gut. Wenn es jemand schafft, ihn zu finden, dann sicherlich du, besonders mit der Hilfe eines Tagwandlers aus dem Königshaus."

„Weißt du, wer er ist?", fragte ich, weil ich unbedingt wissen wollte, ob sie es sich richtig zusammengereimt hatte. Auch Sylas zeigte zurückhaltendes Interesse an ihrer Antwort.

„Ich bin mir nicht sicher. Aber ich würde auf einen Spross der ersten Linie tippen. Soweit ich das zu meiner Zeit mitbekommen haben, war nur die Herrscherblutlinie und die wichtigsten Diplomaten bei allen Festen – und die Diplomaten kamen fast immer allein, ohne Kinder. Demnach bleibt nicht viel Auswahl. Liege ich denn falsch?"

Ich warf Sylas einen Blick über die Schulter zu. Ich konnte deutlich spüren, dass es mir nicht zu stand, diese Frage für ihn zu beantworten. Sowie er zu einer Antwort ansetzte, veränderte sich sein Auftreten kaum merklich. Es war gerade genug, um eine gewisse Autorität auszustrahlen, die ich vorher noch nie bei ihm gespürt hatte. Sein Kinn war minimal erhoben und seine Mundwinkel zierten der Ansatz eines Lächelns. „Ich bin der Erstgeborene Nangrims. Verzeih mir, Ophelia, ich wollte unser Treffen nicht mit redundanten Förmlichkeiten überschatten."

Sein flüssiger Übergang ins Du gegenüber meiner Großmutter ließ mich aufhorchen. Auch, dass er ihren Vornamen benutzte, obwohl sie sich ihm offiziell noch nicht so vorgestellt hatte, verdeutlichte mir, dass er noch eine andere Seite besaß. Der zukünftige Herrscher steckte ganz klar in ihm, auch wenn er ihn mir gegenüber nie gezeigt hatte.

„Meine Güte", entfuhrt es meiner Großmutter leise. Sie senkte erst kurz den Blick, dann fing sie meinen auf. Ihr Gesichtsausdruck zeigte eine Mischung aus Ungläubigkeit und Ehrfurcht. Vermutlich wunderte sie sich, warum ich in seiner Gesellschaft war.

Mein Großvater schien nicht zu wissen, was genau Sylas seiner Frau gerade offenbart hatte, denn er schaute zwischen uns hin und her und sah ein wenig verloren aus. Ihre Reaktion war trotzdem recht eindeutig, sodass er nicht nachfragen wollte. Ich sah seinen Adamsapfel hüpfen, als er schwer schluckte.

 „Also... wohin müssen wir jetzt?", fragte ich leise, um die Spannung zu durchbrechen.

„In die Goldene Welt", sagte Sylas.

„Ist dort alles vergoldet?", fragte ich weiter. Mein kläglicher Versuch, die weiterhin angespannte Stimmung aufzulockern, trug Früchte. Sowohl meine Großmutter als auch Sylas mussten sich ein Lächeln verkneifen.

„Ich erzähle dir die Legende auf dem Weg. Das nächste Weltentor ist noch ein paar Stunden entfernt", antwortete er und wandte sich zu meinen Großeltern. „Ich danke euch für eure Gastfreundschaft. Habt keine Sorge, ich werde Kaia beschützen."

Mir wurde ein kleines bisschen warm ums Herz. Einer plötzlichen Eingebung folgend trat ich näher zu ihm und hielt mich ein bisschen an seinem Unterarm fest. Er legte eine Hand über meine Hände. Meine Großmutter nickte ihm, wenn mich nicht alles täuschte, in einer angedeuteten Verneigung zu, zeigte dabei aber kaum Emotionen.

Für mich war das ein deutliches Zeichen, dass diese Sache ihr trotzdem Kopfzerbrechen bereitete. Wie gefährlich konnte es für mich sein, an diesen Hof zu gehen? Oder ging es ihr lediglich um das Wohlergehen meines Vaters und ich überinterpretierte ihr Verhalten zu sehr in meine eigene Situation hinein? So oder so änderte es nichts daran, dass ich gehen musste. „Wo ist das Weltentor?"

„In Italien", sagte Sylas und zog mich sanft zur Tür. „Lass uns gehen."

Ich ließ ihn los, um meine Großeltern zum Abschied zu umarmen. Meine Großmutter drückte mich fester als sonst an sich. „Sei vorsichtig", wisperte sie mir ins Ohr.

Unsere Blicke trafen sich und ich versuchte in ihren Augen mehr zu finden. Ihre Pupillen zuckten so kurz in Sylas' Richtung, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es mir nur eingebildet hatte. „Natürlich, Oma", gab ich beruhigend zurück.

Sylas ging schon einige Schritte voraus und zückte sein Telefon. Vermutlich, um uns ein Taxi zu rufen. Ich nutzte diese Sekunden und flüsterte: „Was ist los?"

„Du bewegst dich in gefährlichen Kreisen, mein Schatz. Dein Vater wäre nicht glücklich, wenn er darum wüsste", erwiderte sie so leise, dass ich mich sehr anstrengen musste, um sie zu verstehen.

„Sylas würde mir nichts tun", gab ich stirnrunzelnd zurück, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Worte mich verunsicherten. Ich wünschte mir, ich könnte noch eine Weile länger und unter vier Augen mit ihr sprechen, denn ich hatte den Eindruck, dass sie mir eigentlich noch mehr hätte sagen wollen.

„Er vielleicht nicht."

Aber andere schon. Der unausgesprochene Teil ihrer Worte hing überdeutlich in der Luft, und der ausgesprochene klang nicht überzeugt. Sie traute ihm nicht. Allerdings hatte sie zuvor nicht die besten Erfahrungen mit Ihresgleichen gemacht, also konnte der Ursprung ihrer Worte auch in alter Verbitterung liegen. Immerhin war ich gerade auf dem Weg zu dem Mann, der sie jahrelang überseine Identität belogen und dann ohne jedes Wort der Erklärung zurückgelassenhatte. Ein gewisses Misstrauen hielt ich an dieser Stelle für angebracht.


Hallo, ihr Lieben. Heute kommt - etwas verspätet - nur ein kurzes Kapitel. Ich stecke gerade mitten im Umzug und habe so viele Dinge im Kopf, dass ich mich kaum aufs Schreiben konzentrieren kann, selbst wenn ich mal die Ruhe dafür finde. Ich versuche es natürlich trotzdem, aber es kann sein, dass die Updates in den nächsten zwei Wochen etwas verspätet kommen, oder etwas kürzer ausfallen. 

Sobald der Umzug rum ist, werde ich selbstverständlich wieder ins gewohnte Muster zurückgehen. Über eure Unterstützung in Form von Votes und Kommentaren freue ich mich sehr, und danke für eure Geduld! :)

Eure Jade

Chained AshesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt