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Der Kleinbus war mit hoher Geschwindigkeit über die Autobahn gerast und hatte am frühen Abend sein Ziel im Süden des Eichenwald-Territoriums erreicht. Die Männer sprangen aus dem Bus. Einige von ihnen eilten auf das Toilettenhäuschen zu. Ein paar der Männer aber stellten sich schamlos an den Rand des Autobahnparkplatzes und erleichterten sich dort. Eine ganze Tüte voller leerer Bierdosen landete neben dem übervollen Mülleimer. Einige öffneten neue Bierdosen und tranken. Sie sangen, lachten, grölten und immer wieder klopften sie einem jungen Mann gönnerhaft auf die Schulter. Für die Menschen, die auf dem Parkplatz anhielten, sah es nach einem Junggesellenabschied aus, der mittlerweile aufgrund des Alkohols ausfallend zu werden drohte. Die meisten Menschen fuhren daher schnell weiter.

Und plötzlich waren die Männer verschwunden und der Kleinbus zurück auf der Autobahn. Der Fahrer nahm die nächste Abfahrt, fuhr unter der Autobahn durch und nahm die Auffahrt in die entgegengesetzte Richtung. Nun passte er sich ordnungsgemäß dem Verkehr an. Die roten Autokennzeichen hatten sie an der Raststätte abgeschraubt und in einem versteckten Zwischenraum im Boden des Buses verschwinden lassen.

Zu diesem Zeitpunkt gingen mehrere Anrufe bei der Polizei ein. Die einen beschwerten sich über das Verhalten der Männer auf der Raststätte und äußerten ihre Befürchtung, dass der Fahrer ebenfalls alkoholisiert fahren würde und dass doch viel zu gefährlich sei. Streifenwagen und Polizeiwagen in Zivil fuhren die Autobahn in Richtung Süden mehrmals ab. Doch von einem Kleinbus mit roten Kennzeichen und einer Horde betrunkener Männer war keine Spur zu finden.

Andere Anrufer gaben an, sie hätten einen Wolf gesehen. Einer hatte den Wolf sogar gefilmt. Sein Haus stand am Dorfrand und dahinter gab es nur noch Felder. Er hatte den Wolf gesehen, der gemütlich über das Feld trabte. Es war eindeutig ein Wolf, denn einmal blickte er zu dem Dorf hinüber und man konnte seine gelben Augen erkennen.

In den Regionalnachrichten im Radio wurden die Menschen vor diesem streunenden Wolf gewarnt. Man ging davon aus, dass ein Überläufer unterwegs wäre, auf der Suche nach Anschluss oder nach einem eigenen Revier. Jedenfalls bat man die Menschen um Vorsicht. Wer nicht hinaus musste, sollte zuhause bleiben. Hunde sollten sicherheitshalber immer an der Leine geführt werden.

Dann überschlugen sich die Meldungen. Anrufer aus mehreren Nachbardörfern hätten zeitgleich ebenfalls einen Wolf gesehen. Die Experten bezweifelten dies. Hätte sich in diesem Gebiet ein Wolfsrudel niedergelassen, wäre dies schon längst bekannt gegeben worden. Aber hier gebe es keine Wölfe. Sie würden hier zu wenig Nahrung finden und mehrere Überläufer zeitgleich in einem Gebiet wären noch nie beobachtet worden.

Auch im Rudelhaus der Eichenwald-Wölfe waren diese Meldungen bereits eingegangen. Weiter im Süden gab es keine Werwölfe mehr. Es musste sich also um ein normales Wolfsrudel handeln, das sich hierher verirrt hatte. Marius schickte mehrere Männer in diese Region. An die Wölfe vom Silmertal dachte er nicht.

Marius war sich sehr sicher, dass das kleine Menschlein ihrem Alpha weggelaufen war. Und er war sich auch sehr sicher, dass Alex keine Ahnung hatte, wo sie gerade war. Er schnaubte böse. Er würde seinen Spaß mit ihr haben sobald es seinem kleinen Freund wieder besser ginge. Sie würde zuerst büßen müssen für das, was sie ihm angetan hatte, und dann erst würden er Alex eine entsprechende Nachricht zukommen lassen.

Doch zunächst musste er diese Wolfsgeschichte im Süden in den Griff bekommen. Wölfe auf seinem Territorium konnte er nicht gebrauchen. Er und sein Rudel brauchten den Wald für sich und er brauchte Ruhe, damit er seinen Wald auch friedlich und ungestört genießen konnte.

Der Auftrag an seine Männer war daher eindeutig. Findet die Wölfe und verjagt sie. Wir brauchen hier keine Publicity und schon gar nicht irgendwelche Experten, die in seinem Wald herumstöbern auf der Suche nach Wolfsspuren.

——

Wolfsgeheul. Es kam von draußen und es klang, als wäre es sehr weit weg. Plötzlich Schritte. Zunächst noch leise, doch sie kamen immer näher. Ria stand mit dem Rücken zur Wand und lauschte. Sie hatte nichts, womit sie sich hätte verteidigen können. Das Tablett war aus Plastik, der Teller auch. Auch mit dem Becher und dem Krug konnte sie nicht wirklich etwas anfangen. Sie hatte keine andere Wahl, als zu warten und zu hoffen, dass sich ihr eine Chance bietet.

Die Schritte stoppten vor der Tür. Es waren leichte Schritte. Der Schlüssel drehte sich und die Tür ging auf. Ria hatte eine Frau erwartet und wirklich, es war eine Frau, die leichtfüßig zu dem Tablett eilte, es aufnahm und wortlos wieder damit verschwinden wollte.

„Wer bist du", fragte sie laut.

Die Frau blieb wie angewurzelt stehen. Sie duckte sich und traute sich nicht ihren Blick zu heben.

„Schau mich an", forderte Ria sie auf.

Die Frau machte sich noch kleiner und senkte ihren Kopf noch tiefer.

„Verflixt nochmal", schnauzte Ria sie an. „Kannst du nicht antworten?"

„Amely", flüsterte die Frau ganz leise.

„Na also, geht doch", brummte Ria. „Also Amely, kannst du mir mal sagen, wo ich hier auf die Toilette gehen kann? Oder soll ich hier einfach auf den Boden kacken?"

„Ich sage Bescheid", stammelte Amely sehr leise und beeilte sich den Raum zu verlassen.

Die Tür knallte zu, der Schlüssel drehte sich und ihre Schritte entfernten sich schnell. Dann war es wieder still. Lange Zeit war nichts zu hören. Schließlich hörte sie wieder Schritte. Dieses Mal waren es die Schritte von zwei Menschen. Sie klangen lauter und schwerer. Es waren die Schritte von Männern. Der Schlüssel drehte sich erneut und die Tür öffnete sich.

Ria hatte richtig gehört, es waren Männer. Sie trugen eine Kiste. Sie trugen sie an den Rand des Raumes. Dort öffnete sie eine kleine Tür im Gitter. Eine Tür, die Ria bis dahin noch nicht bemerkt hatte und die gerade Mal so groß war, dass diese Kiste durch passte. Dann sperrten sie die Gittertür wieder ab und verließen wortlos den Raum.

Die Männer hatten sie nicht angesehen. Sie wirkten kräftig und stark und trotzdem eher wie zu groß geratene verängstigte Jungs. Was hatte ihr Doc erzählt? Es gab in jedem Rudel auch welche, die geboren wurden, um zu dienen. In jedem Rudel gab es eine Hierarchie. Ganz oben ist der Alpha. Unter ihm, aber auch noch ziemlich weit oben ist der Beta oder sind die Beta, je nachdem. Das ist die Führung. Dann kommen die Gammas und Deltas, also die Mittelschicht und ganz unten stehen die Omegas. In manchen Rudeln sind die Omegas die, die herumgestoßen werden und den letzten Dreck machen müssen. In den meisten Rudeln machen die Omegas zwar auch die Drecksarbeit, denn irgendjemand muss diese Arbeit schließlich auch machen, aber sie werden nicht herumgestoßen. Sie sind Teil des Rudels und sie sind wichtig für das Rudel und werden deswegen auch ernstgenommen.

Die junge Frau war mit Sicherheit eine Omega und Ria war sich fast sicher, dass auch die beiden Männer zu dieser Schicht gehörten. Denn sie hatten Angst, große Angst. In diesem Rudel wurde ihre Arbeit mit Sicherheit nicht wertgeschätzt.

Wieder war Wolfsgeheul zu hören. Ria lauschte. Wenn es in dieser Region Wölfe gebe, hätte sie gewiss in den Nachrichten schon mal was davon gehört. Außerdem hat Doc ihr erzählt, dass dort, wo Werwölfe leben nicht zusätzlich normalen Wölfe leben würden.

War das Alex? Kam er um sie zu holen? Quatsch. Ria schüttelte den Kopf. Alex wusste nicht wo sie war. Oder mittlerweile vielleicht doch? Und wenn er es wusste, würde er wirklich kommen? Sie fühlte Wut, Wut darüber, dass man sie entführt hatte und sie hier wie ein Tier eingesperrt hielt. Sie fühlte Enttäuschung, Enttäuschung darüber, dass ihre Flucht nicht gelungen war. Aber gleichzeitig wünschte sie sich, dass Alex sie doch finden würde. Sie fühlte Frust, Frust darüber, dass sie selbst keine Möglichkeit hatte, irgendetwas zu tun. Sie fühlte aber auch Angst, Angst, weil sie nicht wusste, was auf sie zukommen würde, weil sie nicht wusste, was Marius wirklich vor hatte.

Sie ballte die Fäuste und schrie so laut sie konnte. Erleichtert atmete sie auf. Das hatte gut getan. Dann wandte sie sich der Kiste zu.

Die Wölfe vom Silmertal - Die Gefährtin des Alphas.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt