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Aufmerksam studierte Ria den Abfahrtsplan der Züge am Bahnhof in Kappeln. Der Zug in fünf Minuten würde bis ganz ans Meer fahren. Aber dafür würde das Geld nicht reichen, das Anna ihr geliehen hatte. Und was sollte sie am Meer? Sie mochte zwar das Wasser, aber es musste nicht gleich ein Meer sein, ein See tat es auch.

Ein See. Richtig. Ganz schwach konnte sie sich noch daran erinnern, dass sie mit ihren Eltern schon mal an einem See Urlaub gemacht hatte. Damals lebte ihre Mutter noch. Ihre Mutter liebte Wasser über alles und alles was mit Wassersport zu tun hatte. Ihr Vater war eher so für das Wandern über Feld, Wald und Flur. Also machten sie Urlaub an einem See. Wie hieß er doch gleich? Sie las die weiteren Ziele durch und stutzte. Eichsee hieß er, sie erinnerte sich. Der Zug, der in einer halben Stunde fuhr, hielt auch in Eichstadt am Eichsee. Sie hatte also noch Zeit, sich eine Fahrkarte zu besorgen.

Irgendwie freute sie sich auf diese Fahrt und fühlte sich, als würde sie in Urlaub fahren. Sie war gespannt, ob sie sich noch an das eine oder andere erinnern konnte. Die Bilder, die sie vor Augen hatte, waren verschwommen. Ganz schwach noch konnte sie sich an einen Steg erinnern, oder gehörte diese Erinnerung zu einem Bild, das sie irgendwann mal irgendwo gesehen hatte? Aber sie erinnerte sich plötzlich an eine Hütte, nahe am Ufer. Dort hatte sie immer Eis geholt. Am Liebsten mochte sie dieses Wassereis, das so herrlich fruchtig nach Orangen schmeckte.

Ob er sie suchen würde? Verflixt. Warum dachte sie schon wieder an Alex? Natürlich würde er sie suchen. Er hielt sie ja schließlich für sein Eigentum. Sie schnaubte wütend auf. Sie gehörte sich selbst und ihrem Schöpfer und sonst niemandem. Und schon gar nicht so einem dominanten Anführer eines Wolfsrudels. Sie war ein Mensch und hatte mit diesem ganzen Wolfsgedöns nichts, aber auch gar nichts zu tun. Energisch schüttelte sie den Kopf und vertrieb die Gedanken an Alex.

Neugierig blickte sie aus dem Fenster. Die Landschaft war schön. Zwischen sanften Hügeln und kleiner Waldstücke lagen alleinstehende Höfe mit Viehweiden und Feldern. Manche Felder waren bereits abgeerntet. Scharen von Vögel tummelten sich auf ihnen. Wahrscheinlich fanden sie dort noch jede Menge Körner, oder sie pickten die Käfer und Würmer auf, die nach dem letzten Regen an die Oberfläche gekommen waren.

Dann entdeckte sie zwischen den Sträuchern und Bäumen einen See. Aber er schien klein zu sein, denn kaum zwei Minuten später konnte sie nichts mehr vom nassen Blau entdecken. Sie fühlte, wie sich der Zug vorsichtig nach links legte und eine langgezogene Linkskurve fuhr, ehe er sich aufrichtete und zur rechten Seite neigte. Jetzt sah sie ihn, den Eichsee. Von hier aus wirkten die Häuser auf der anderen Uferseite wie kleine Bauklötze und das kleine Dorf weiter im Süden konnte sie gerade noch erahnen.

Endlich wurde der Zug langsamer. Die Schienen entfernten sich vom Ufer des Sees und der Abstand zwischen See und Zug wurde schnell größer. Links und Rechts tauchten die ersten Häuser auf. Es wurden immer mehr und eine Männerstimme verkündete die Ankunft in Eichstadt am Eichsee.

Ria stieg aus und blickte sich neugierig um. Nichts von dem was sie sah glich einem der Bilder in ihrer Erinnerung. Aber das machte nichts. Das was sie sah, gefiel ihr. Hier würde sie sich wohlfühlen. Vorerst jedenfalls. Ihr erster Weg führte sie zum Ufer des Sees. Sie zog ihre Schuhe aus und genoss die kleinen Wellen um ihre Füße. Sie schloss die Augen und fühlte den leichten Wind auf ihrer Haut und die warmen Sonnenstrahlen des Spätsommers. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals die Natur so intensiv wahrgenommen zu haben. Ob die Markierung ebenfalls daran Schuld war?

Ria erschrak. Musste denn immer wieder Alex Gesicht vor ihrem geistigen Auge auftreten?

——

„Sie ist in Kappeln in einen Zug gestiegen", berichtete Tom und legte den Hörer auf.

„Also doch. Scheiße", fluchte Alex.

„Carl hat sie in dem Auto einer jungen Frau entdeckt. Sie hatten Ringen verlassen und sind in Richtung Kappeln gefahren. Carl hat mir das Autokennzeichen der Frau aufgeschrieben. Hier."

Tom reichte den Zettel an Alex, der ihn sofort an einen anderen Mann weitergab. „Bitte nachprüfen."

„Carl hat in Kappeln sämtliche Bushaltestellen auf dem Weg zum Bahnhof abgesucht, aber erst am Bahnhof selbst konnte er ihren Duft wittern. Hier ist der Abfahrtsplan von Kappeln. Sie kann nur einen dieser sechs Züge im Zeitraum von einer Stunde genommen haben. Welchen wissen wir natürlich nicht. Ich fahre gleich los. Ich bin mit Kaira und ihren Eltern zum Frühstück verabredet."

„Kein Wort über Ria und ihr Verschwinden, ok?", forderte Alex.

„Klar", nickte Tom. „Ich werde aufs Gradwohl einen Ausflug in den Süden vorschlagen und nach möglichen Zielen fragen. Vielleicht haben wir Glück."

Er nickte Alex kurz zu und war verschwunden.

Der Mann kam zurück und gab Alex den Zettel. „Die junge Frau heißt Anna Kurze und wohnt am südlichen Stadtrand von Ringen. Ich habe schon jemand dorthin geschickt."

„Gut gemacht", nickte Alex und nahm den Zettel entgegen.

„Ruft die Männer zusammen. Wir müssen davon ausgehen, dass Ria die Grenze überschritten hat. Schickt die Männer nach Kappeln. Sie sollen sich dort unauffällig umsehen. Und lasst euch ja nicht zu nahe an der Grenze blicken. Marius, der Alpha des Eichenwald-Rudels, darf nichts bemerken."

Die Wölfe vom Silmertal - Die Gefährtin des Alphas.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt