* 14 *

1.2K 53 0
                                    

Es war mitten in der Nacht, doch Ria war noch immer wach. Sie hatten gemeinsam einen Zwiebelkuchen gebacken und verspeist. Anna kannte sowas nicht. Sie hatten sich über viele Dinge unterhalten. Ria erzählte von ihren Urlaubsreisen, wobei sie dabei nur die Geschichten erzählte, die sie bei ihren Jobs in den Hotels von Gästen gehört hatte. Und Anna erzählte ihr von ihren Verkaufstouren. Es war ein schöner und entspannter Abend gewesen. Jetzt lag sie auf dem Sofa und starrte an die Decke. Wie sollte es weitergehen?

Sie hatte mit Anna zusammen ihre Einkäufe durchgesehen und dabei viel Spaß gehabt. Anna war eine lustige und quirlige Person. Für kurze Zeit vergaß Ria, dass sie auf der Flucht war und sie veranstalteten eine bunte Modenschau mit wild kombinierten Kleidungsstücken. Anna kommentierte Ria's Klamottenwahl und Ria versuchte mit übertrieben ernster Miene verrückte Beschreibungen für Anna's modischen „So geht es gar nicht"-Style zu finden. Schließlich lagen sie beide lachend auf dem Boden und hielten sich die Bäuche. Mühsam mussten sie anschließend die Kleider auseinander sortieren. Aber auch dabei hatten sie ihren Spaß.

Die Hälfte der bestellten Klamotten wollte Anna behalten, die andere Hälfte zurückschicken und für jedes neue Teil hatte sie ein Teil aus ihrem Schrank aussortiert. Ria würde also am nächsten Morgen mit ein paar Ersatzklamotten weiterreisen können. Anna hatte ihr auch etwas Geld gegeben und sie würde sie morgen Früh auch noch bis Kappeln mitnehmen. Von dort konnte sie dann mit dem Zug weiter in den Süden reisen.

Soweit schon mal so gut. Nur, sie hatte keine Papiere bei sich. Trotzdem hoffte sie, in einem kleinen Hotel oder einem Restaurant eine Arbeit zu finden. Sie würde etwas Zeit verstreichen lassen und dann versuchen, mit ihrem Papa heimlich Kontakt aufzunehmen. Maschara und Kaira durften nur nichts mitbekommen, denn dann würde auch Alex wissen, wo sie war. Und das wollte sie auf gar keinen Fall.

Sie schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Doch kaum hatte sie die Augen geschlossen, glaubte sie Alex große raue Hände auf ihrem Körper zu spüren. Diese Hände, die so fest und schmerzhaft zupacken und doch so unendlich zärtlich sein konnten. Nur mit Mühe unterdrückte sie ein Stöhnen. Er hatte sie nach allen Regeln der Kunst verführt und sie hatte ihm nicht widerstehen können, nicht eine Sekunde lang. Sie war willenlos in seinen Armen und das durfte nicht sein. Er benutzte sie doch nur, sah in ihr nur sein Eigentum. Aber das war sie nicht, sie war eine eigene Persönlichkeit. Deshalb musste sie weg, so schnell wie möglich, so weit wie möglich, bevor sie sich ganz an ihn verlor und voll und ganz zu einer willenlosen Marionette wurde. Und Alex durfte sie niemals finden.

Sie würden sie suchen. Sicher. Aber sie können nicht zur Polizei gehen. Und selbst wenn, die Polizei würde wohl kaum so schnell aktiv werden. Schließlich war sie volljährig und hatte das Recht auf ein eigenes Leben. Und es bestand auch keine Gefährdungslage. Was sollten sie der Polizei den sagen?

Ria wälzte sich hin und her. Vielleicht sollte sie auch ihrem Vater nicht sagen, wo sie war. Sie könnte doch auf ein Amt gehen, dort angeben, dass sie ihre Papiere verloren habe und neue brauchte. Vielleicht sollte sie das Land ganz verlassen. Aber ohne Papiere?

Irgendwann fielen ihr vor Müdigkeit dann doch die Augen zu. Sie fiel in einen unruhigen Schlaf, aus dem Anna sie früh am Morgen sanft, aber bestimmt weckte.

„Wenn du mit mir bis Kappeln fahren und von dort aus weiterreisen willst, solltest du aufstehen", lächelte Anna. „Du darfst aber auch gerne noch liegen bleiben. Wenn du die Straße weitergehst, kommst du nach etwa einem halben Kilometer an einen kleinen Bahnhof. Zieh dann einfach die Wohnungstür hinter dir zu. Oder du bleibst noch zwei oder drei Tage mein Gast."

„Danke Anna", lächelte Ria zurück. „Ich fahr mit dir bis Kappeln. Sobald ich diese dämliche Wette gewonnen habe, komme ich dich besuchen. Und dann haben wir eine ganze Menge Zeit."

Eine Stunde später saß Ria neben Anna im Auto und nach nur dreißig Minuten hatten sie den Bahnhof in Kappeln erreicht.

——

Auch Alex hatte eine sehr unruhige Nacht. Er machte sich Sorgen, große Sorgen. Er musste unbedingt wissen, wo sie war, ob es ihr gut ging, ob sie dort wo sie war auch wirklich in Sicherheit war.

Tom war gegen Abend von Ringen zurückgekommen und hatte die erste Hälfte der Nacht die Stellung gehalten und alle Informationen von außen entgegengenommen. Um ein Uhr nachts hatte er Chris geweckt, der oben im Gästezimmer geschlafen hatte. Um vier Uhr morgens hatte es Alex nicht mehr ausgehalten. Er war aufgestanden und ins Wohnzimmer gegangen, und war gemeinsam mit Chris alle Notizen durchgegangen. Nichts.

„Sobald sie die südliche Stadtgrenze von Kappeln überschreitet, ist sie auf dem Territorium des Eichenwald-Rudels", bemerkte Chris.

„Ja", nickte Alex sorgenvoll, „und das ist nicht gut."

„Wie war das mit den – Meinungsverschiedenheiten?"

„Eigentlich waren es die meines Vaters und Marian, dem alten Alpha des Eichenwald-Rudels." Alex trank einen großen Schluck Wasser und lehnte sich im Sessel zurück. „Marian war der Meinung, dass Kappeln und der ganze Wald westlich von Kappeln bis zu den Hügeln zu seinem Territorium gehörten. Aber das stimmte nicht. Dieses ganze Gebiet gehörte schon immer den Silmertal-Wölfen. Marian hatte deswegen meinen Vater herausgefordert. Doch Vater legte Wert auf gute Nachbarschaft. Er pflegte nicht nur freundschaftliche Kontakte zum Tullamoor-Rudel im Norden, sondern hatte auch guten Kontakt zum Rieder-Rudel  im Osten. Der Alpha vom Rieder-Rudel jedenfalls stellte sich an Vaters Seite. Marian war total erbost und griff an. Doch gegen das große Silmertal-Rudel und gegen das Rieder-Rudel hatte er keine Chance. Marian hatte den Kampf nicht überlebt. Nach ihm hat sein Sohn Marius die Führung des Rudels übernommen. Leider ist er ganz der Sohn seines Vaters. Als ich dieses Rudel übernommen habe, habe ich versucht, mit ihm Frieden zu schließen. Leider ohne Erfolg. Ich hatte ihm sogar Kappeln angeboten und noch ein bisschen vom Wald dazu. Doch Marius wollte alles. Also habe ich mein Angebot zurückgezogen und ihm klar gemacht, dass ich ihn in der Luft zerreißen würde, würde er es wagen auch nur eine Pfote auf unser Territorium zu setzen. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. Aber wenn er sich an meinen Geruch erinnert, ist Ria in großer Gefahr."

„Weißt du wo Marius sein Haus hat und sein Rudelhaus?", fragte Chris.

„Hier ist Kappeln", Alex zeigte auf die Karte. „Ein Stück weiter südöstlich gibt es ein großes Waldgebiet, in dem hauptsächlich Eichen wachsen. Deswegen auch Eichenwald-Rudel. Dieses ganze Gebiet hier gehört ebenfalls dazu, diese Kleinstadt hier, die Seen und die paar kleine Dörfer dazwischen auch. Das hier ist ein sehr beliebtes Urlaubsgebiet für Menschen. Soweit ich weiß, liegt sein Rudelhaus in der Nähe der Kleinstadt. Aber wo genau, kann ich nicht sagen."

„Wir wissen doch, das Ria häufig in Hotels und Restaurants jobbt. Und irgendwie muss sie zu Geld kommen, wenn sie noch weiter weg will. Am ehesten würde sie in einer Gegend Arbeit finden, wo viele Touristen sind. Dort gibt es immer was zu tun."

„Wir können nicht einfach dorthin und rumschnüffeln, Chris, das ist fremdes Gebiet."

„Wir nicht...", lächelte Chris breit.

„Aber Rick kann es", vollendete Alex und lächelte jetzt auch. „Tom soll versuchen, Bilder von Ria zu bekommen. Aber dezent. Ich will nicht, dass ihre Familie etwas von ihrem Verschwinden erfährt. Noch nicht. Ok?"

„Schon notiert. Und Rick schicken wir in Urlaub. Er soll herausfinden, wo das Rudel seinen Sitz hat und Ria im Auge behalten, falls sie tatsächlich dort auftauchen sollte."

„Was wenn nicht?", fragte Alex zweifelnd.

„Wir finden sie, Alex. Ganz sicher. Und wir holen sie zurück. Ok?"

Die Wölfe vom Silmertal - Die Gefährtin des Alphas.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt