Kapitel 12 - Henri

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»Iuhhh«, knarzt die Tür der Hütte und zieht mich damit aus dem Schlaf. Ich war gerade im Traum wieder im Fluss mit Charlie. Wir haben uns geküsst und es war wunderschön. Oh Gott, meine Träume drehen durch. Es ist Charlie! Sie ist kein Junge. Ich kann sie nicht lieben, denn ich stehe auf Jungs. Aber wieso stelle ich mir dann sowas vor? Bin ich so süchtig nach einer perfekten Beziehung, dass ich es mir bei jeder netten Person vorstelle? Aber wieso dann nur bei Charlie und nicht bei Nici oder Marla? Was hat sie so besonderes an sich, dass sie mich so durcheinanderbringt? 

Ich höre Schritte und zucke zusammen. Ich habe keine Ahnung, wer es ist, weshalb ich mich einfach weiter unter der Decke verstecke und abwarte. Es ist zu dunkel, um die Person zu erkennen und eine Taschenlampe hängt an der Tür.
Ich lausche den gleichmäßigen Schritten, bis sie direkt neben mir sind und sich auf den Schlafsack fallen lassen. 

»Charlie?!«, flüstere ich in die Dunkelheit. Das Rascheln von links hört auf und ich spüre Atem an mir. Es muss Charlie sein. Nur sie riecht so schön nach Blumenwiese und Wald. 

»Henri?«, kommt es genauso leise von ihr. Sie kuschelt sich in ihrem Schlafsack ein, bis die Geräusche verstummen. 

»Was machst du noch so spät draußen?«, frage ich, aber es dauert, bis ich eine Antwort von Charlie erhalte. 

»Ich wollte nur frische Luft schnappen.«, flüstert sie mir zu, dann raschelt es wieder. »Gute Nacht.« Denkt sie ernsthaft, wir schlafen jetzt einfach weiter? Ich bin wach, ich brauche jetzt erstmal wieder Zeit, um zu schlafen. Aber der eigentliche Grund, dass ich nicht schlafen kann ist, weil Charlie hier ist. Neben mir liegt. Nachdem sie frische Luft schnappen war, was irgendwie wieder so unehrlich klingt. 

»Frische Luft schnappen?«, flüstere ich also zurück. »Und wo warst du?«

»Im Wald.«, kommt es grummelnd von Charlie. »Ich bin hundemüde, können wir jetzt schlafen?« Sie will nicht reden. Das ist okay. Ich habe ihr versprochen, sie nicht zu drängen, also werde ich gegen meine Neugierde anhalten und sie in Ruhe lassen. 

»Okay. Gute Nacht.«, flüstere ich also in die Dunkelheit und kuschele mich zurück in den Schlafsack. 

Ich schließe meine Augen und versuche wieder zu schlafen, aber ich sehe nur die ganzen Bilder von Charlie und mir vor mir. Jeder einzelne Moment läuft wieder durch meinen Kopf. So als müsste ich mir jedes Wort aus ihrem Mund merken, weil es wichtig ist. Als hätte ich in ein paar Tagen eine Prüfung über sie. Ich muss alles wissen und wenn nicht, bestehe ich nicht. 

Ich mag sie. Ich mag sie wirklich. Aber irgendwie ist es doch genau das, was mich so verwirrt. Ich habe das Bedürfnis, mit Adrian zu telefonieren, um einfach mal Klartext zu reden, was mich verwundert. Ich hatte dieses Bedürfnis nie. Ich war immer zu schüchtern und hatte Angst, was er von mir denkt, wenn ich ihm alles sage. Aber jetzt auf einmal ist es mir alles egal. Dabei liebe ich ihn doch immer noch. 

Oder? Was ist, wenn ich gar nicht mehr in ihn verliebt bin? Was ist, wenn ich so viel an ihn gedacht habe, dass ich es mir mehr oder weniger eingebildet habe? Dass ich eigentlich doch lesbisch bin und einfach nur versucht habe, auf Jungs zu stehen? Aber es waren doch Gefühle in mir. Ich kann mir das Kribbeln in meinem Magen doch nicht eingebildet haben. Es kann doch nicht fake sein! Aber das mit Charlie kann doch auch nicht fake sein! Ich spüre doch dasselbe Kribbeln in meinem Bauch. Dasselbe rasende Herz in meiner Brust. 

Es ist so ähnlich, auch wenn es nicht gleich ist. Aber auch meine Verliebtheit zu Adrian ist nicht vergleichbar zu der zu Jungs davor. Jedes Mal, das man sich verliebt, ist anders. Neu. Und bei Charlie ist es eben auch anders und neu. Es muss doch irgendeine Bezeichnung für mich geben. Es gibt doch so viele Begriffe für nicht-hetero und nicht-cis Menschen, da muss es doch auch irgendwas geben, was zu mir passt. Wieso bin ich bloß so alleine? Ich habe es nie für nötig gehalten, mich über die ganzen Geschlechter und Sexualitäten informieren, weil ich immer dachte, dass ich cis und hetero bin, aber wie kann es dann sein, dass ich so fühle, wie ich fühle?

The Summer Of Our Lives - Henri und CharlieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt