Kapitel 7 - Charlie

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»Geht's?« Ich beuge mich vor und werfe einen Blick auf die Tücher, die Henri um ihr Handgelenk gewickelt hat. Sogar durchs obere ist Blut zu sehen. 

Henri nickt tapfer, obwohl ich glaube, dass ihre Wunde wirklich schmerzhaft sein muss. 

»Sorry.«, entschuldigt sich Henri auf einmal bei mir. Ich sehe sie verwirrt an. Wieso entschuldigt sie sich? Sie hat doch gar nichts getan. »Wegen mir musstest du nach draußen und kannst nicht mehr mitmachen...« Henri sieht mich schuldig an. Sie scheint sich wirklich schlecht zu fühlen deswegen. Ich muss etwas grinsen. 

»Denkst du Kartoffeln zu schälen macht mir Spaß?« Henri lacht, obwohl mir an ihrer Stelle wahrscheinlich nicht danach zumute wäre. Sie nimmt das Tuch von ihrer Wunde und darunter kommt ein großer Schnitt zum Vorschein, der locker durch ihren halben Daumen geht und auch ziemlich tief scheint. Da wird wahrscheinlich ein einfaches Pflaster nicht ausreichen. »Ich fand's eigentlich ganz cool.«, gibt Henri grinsend zu. 

»Okay?«, lache ich. »Ich glaube, Kartoffeln schälen wird definitiv nicht mein neues Hobby.« Henri grinst. Es ist das erste Mal, dass ich das Gefühl habe, ich selbst sein zu können. Es ist wie bei Lou, nur irgendwie doch anders. Ich kenne Henri kaum, aber trotzdem fühle ich mich irgendwie gerade, als wären wir schon ewig befreundet. 

Ich weiß, ich schätze Leute immer viel zu schnell ein und merke erst viel später, dass sie oft doch ganz nett sind. Das ist bei Henri genauso. Sie ist diese Art von Mädchen, von denen ich denke, dass sie einfach nicht normal und nett sein können. Ich würde nicht mit ihnen klarkommen, dachte ich immer, und habe dabei völlig vergessen, dass Style und Aussehen etwas ganz anderes sind als der Charakter. Lou und ich stylen uns auch ähnlich und trotzdem ist unser Charakter so verschieden. 

Ich habe Henri zu früh in die Schublade girly girl gesteckt, anstatt ihr eine Chance zu geben. Ich meine, ich kenne sie immer noch nicht, aber eigentlich ist sie doch ganz sympathisch. Ich wette, sie wäre wunderschön ohne die dicke Schicht ihrer Schminke. Ich glaube, ich kenne niemanden, der geschminkt besser aussieht als ungeschminkt. Ich finde generell, dass natürliche Schönheit viel besser aussieht als unnatürliche. Vielleicht werde ich ja heute Abend erfahren, wie Henri ohne Schminke aussieht. 

»Meins auch nicht.« Henri lacht. »Aber es ist cool mit dir und Lou. Ihr seid wirklich nett.«
Und schon wieder driften meine Gedanken ab. Von den Gedanken über Henri, Kartoffeln und Wunden verwandeln sich alle in dieses eine Wort. Drei Buchstaben, aber die sind magisch. L. O. U. Lou. Ich wüsste so gerne, was sie für mich empfindet. Freundschaft? Etwas mehr? Viel mehr? Oder... weniger?

»Ist alles okay?«, unterbricht Henri meine Gedanken. Ich sehe sie verwirrt an. Natürlich. Es ist alles super. Mir geht es bestens.

Wenn da nicht diese Gedanken an Lou wären, die immer irgendwas mit mir machen. 

»Ähm, ja. Klar. Was meinst du?«, frage ich betont unschuldig, obwohl ich genau weiß, was für ein offenes Buch ich bin. Henri muss schon längst gemerkt haben, dass Lou für mich nicht einfach nur irgendeine Freundin ist. Gott, ich muss ich echt mal am Lügen arbeiten. Jeder durchschaut mich doch sofort. Aber auch wenn das so ist, wundert es mich trotzdem, dass Henri schon so früh gemerkt hat, dass etwas nicht mit mir stimmt. 

Sie hat schon direkt am Anfang in der Hütte gefragt, ob alles mit mir okay ist und obwohl ich wie immer so getan habe, als wäre alles super, hat sie gemerkt, wie gelogen das ist und sogar nochmal nachgefragt. Ich fand das zuerst aufdringlich, aber jetzt fällt mir auf, dass es daran liegt, dass sie einfach gut bei Menschen merkt, wie es ihnen geht. Diese Fähigkeit besitzt nicht jeder. 

»Ich hab das Gefühl, bei Lou bist du immer so anders.« Henri sieht mich erwartungsvoll durch ihre blau-braunen Augen und die getuschten Wimpern an. Sie hat voll ins Schwarze getroffen. Wie macht sie das bloß? Es ist, als hätte sie einen Sensor, mit dem sie genau die Gedanken und Gefühle von jemandem scannen kann. Irgendwie bewundere ich sie davor. 

The Summer Of Our Lives - Henri und CharlieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt