32. Der tägliche Wahnsinn

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„Und cut", rief der Regisseur ihres Videos und gab ihnen ein Daumen hoch. Sie hatten die Choreo einmal durchgetanzt, verfolgt von der Kamera, wie sie es schon von sämtlichen Musikshows kannten. Minseo konnte endlich verschnaufen und für einen Moment seine Idol-Fassade aufgeben.

Sie waren allesamt in irgendwelche sportlich aussehenden Markenklamotten gesteckt worden, die nur schwarz-weiß waren und der Hintergrund wechselte zum Beat die Farbe von hellem orange auf blau. Im Moment waren sie bei ihrem dritten Take. Die ersten beiden waren eher zur Probe, wie die Lichtverhältnisse und Kamerawinkel so aussahen, bei Take drei hatten sie dann ihre hundert Prozent gegeben. Das Gute an solchen Videos war, dass man sich voll auf die Schritte konzentrieren konnte und sich nicht über Töne und Lyrics den Kopf zerbrechen musste. Das Einzige, was zu beherrschen war, war die Kunst des Lipsyncing.

Gemeinsam betrachteten sie nun die entstanden Aufnahmen. Minseo war eigentlich ganz zufrieden. Es sah stimmig und synchron aus, die Gruppe schien im Einklang zu sein und er musste sich selbst direkt für die Close-ups von sich loben, denn seine Stage Presence war dieses Mal viel besser als noch bei Spiraling.

Sein Blick fiel auf Jiyoon, der sich nervös auf den Fingerkuppen herumkaute. Vor der Kamera war er cool, zumindest von außen, hinter der Kamera war er anders. Er schaffte es kaum sich an Gesprächen zu beteiligen und hatte diese nervösen Ticks, die er sonst nie hatte. Minseo fragte sich, was Jiyoon gerade konkret fühlte. Hatte er Angst nicht genug zu sein?

Minseo traf die Entscheidung, dass er zu Jiyoon hinüber gehen sollte, um ihm den Arm auf die Schulter zu legen.

Jiyoon zuckte kurz zusammen, ehe er sich unauffällig in die Berührung lehnte und leise ausatmete.

„Geht es dir gut?", flüsterte Minseo, als die Kamera, die sie auch behind the scenes verfolgte, sich auf Nolan und Florian konzentrierte, die über ihr Training sprachen.

„Es geht schon", murmelte Jiyoon, „Ich hab nur Angst..., dass ich das Ganze hier nicht durchhalte."

Minseo zog ihn näher an sich.

„Das wird schon", nuschelte er halb gegen Jiyoons Haare, „Du kannst das hier auch ohne die Tabletten, du musst es nur noch begreifen."

Sie gingen ruckartig auseinander, als die Kamera sich zu ihnen umdrehte und Minseo spürte eine eigenartige Kälte, die in dieser Bewegung sein Herz umfing, so als hätte Jiyoon noch mehr von ihm mitgenommen, als er sich von ihm gelöst hatte.

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Am Nachmittag stand das Dance-Practise Video zu Cinnamon Rolls auf dem Plan und dafür waren sie in ihrem gewohnten Tanzstudio, allesamt in bequeme Latzhosen und gestrickte Pullis gekleidet. Sehr zu Jiyoons Freude war der von Minseo, der in braun, beige und blau gestreift war, mal wieder zu kurz, so dass er bei bestimmten Moves nach oben rutschte. Es war, als hätte der Staff es extra für ihn gemacht.

Minseo warf Jiyoon einen überraschten Blick zu, als er in einer Pause ziemlich selbstverständlich die Hände um seine Taille schlang und minimal mit den Fingern über die Haut seines Bandkollegen fahren ließ. Für die anderen wirkte es wie eine eher freundschaftliche Berührung, aber für Minseo setzte die Finger des Blonden seine Haut in Brand und ließen ihn ein paar Mal hart schlucken.

Vielleicht konnten sie nachher wieder gemeinsam duschen gehen.

Florian schlang schließlich unschuldig noch die Arme um sie beide, als hätten sie ihm zum Gruppenkuscheln aufgefordert. Gleichzeitig rettete er sie unbemerkt davor, dass ihre Berührung vor der Kamera nach etwas anderem aussah, von dem weder Entertainment noch Fans wissen sollten.

„So Jungs, nächster Take", rief ihr Tanzlehrer, „Wir machen die Choreo wieder einfach einmal durch, ohne Kameraeinstellungen und so. Alles klar?"

Sie nickten und gingen wieder in Position.

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Die Tage der verschiedenen Shootings endeten schließlich mit den drei Tagen Musikvideodreh. Vom Vibe her war dieses Musikvideo ganz anders als Spiraling, viel ruhiger mit geradezu entgegengesetzten Visual. Dennoch machte es Spaß diese neue Seite an sich selbst auszuprobieren und es fühlte sich an, als würde der Song einen viel intimeren Einblick in ihr Leben bieten als ihr Debut-Song. Minseo musste zugeben, dass es ihm eigentlich wirklich gefiel die Szenen zu drehen, vor der Kamera mal nicht einen auf harter Typ machen zu müssen und in eine etwas freiere Rolle zu schlüpfen.

Das machte sogar die schwersten Tanzsequenzen einigermaßen erträglich.

„Und das wars", mit diesem Ausruf lösten sie sich aus ihrer Formation.

„Ich hatte vergessen wie scheiße anstrengend Musikvideos sind", sagte Jaebom und schüttelte seine schmerzenden Arme, „Die Choreografie-Takes machen mich wahnsinnig."

Minseo grinste und setzte sich zu Jiyoon, der auf seinem Stuhl saß und den Kopf gesenkt hatte, so als wollte er alles um sich herum von sich abschirmen. Er sah erst auf, als er Minseo bemerkte. Sein Gesicht war ziemlich bleich.

„Alles in Ordnung?", fragte Minseo.

Jiyoon schüttelte den Kopf. „Mir ist schwindelig. Ich weiß nicht, ob ich noch mal vor die Kamera treten kann." Er klang verzweifelt.

„Du schaffst das. Du hast es immer geschafft." Jiyoon schüttelte auf die Worte hin panisch den Kopf.

„Diesmal nicht", murmelte er. Minseo sah, dass seine Finger zitterten und er sich immer weiter zusammenkauerte.

Der Regisseur hatte schon die nächste Szene ausgerufen, aber Jiyoon schien sich kaum bewegen zu können.

„Ich glaube wir brauchen eine kurze Pause", rief Minseo. Er sah den Blick ihres Managers, der gestresst zu ihnen herüber sah.

„Jungs, muss das sein? Wir haben einen Zeitplan zu erfüllen und ihr hattet vor einer Stunde schon eine Pause.", sagte er und kramte genervt in seinen Unterlagen.

„Es ist wichtig", zischte Minseo mit Nachdruck und ihr Manager gab mit einem Augenrollen nach.

„Schön, du und Jiyoon ihr könnt kurz durchschnaufen, kümmern wir uns doch solange um Nolans Solo-Szenen." Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zu ihrem Regisseur, um ihm die Planänderung mitzuteilen.

Minseo half Jiyoon auf die Beine und gemeinsam zogen sie sich in die Masken-Räume zurück, wo sich im Moment niemand befand.

Kaum waren sie dort angekommen, gab Jiyoon ein unterdrücktes Schluchzen von sich und Minseo zog ihn in seine Arme. Sie verharrten einen Moment lang in dieser Position, eng umschlungen, bis Jiyoon sich wieder beruhigt hatte und grob mit dem Ärmel seines Outfits über seine Augen fuhr, um die verräterischen Tränen loszuwerden.

„Verdammt", sagte er, „Ich wollte nicht, dass sowas passiert. Ich... ich halte alle nur ständig auf, ich muss mich einfach zusammenreisen."

„Du machst nichts falsch", meinte Minseo sanft, „Du kämpfst dich durch und gibst dir echt Mühe, sodass man überhaupt nicht merkt, wie du dich fühlst, während wir drehen. Das ist bewundernswert."

Jiyoon lehnte seinen Kopf an Minseos Schulter und atmete tief durch.

„Vielleicht hast du recht.", flüsterte er, „Vielleicht muss ich mich einfach nur davon überzeugen, dass ich das kann."

Er hob den Kopf und zwang sich zu einem schiefen Grinsen. „Auf einer Skala von 1 bis 10, wie dumm bin ich eigentlich manchmal?"

„Null", Minseo zog ihn wieder in seine Arme, „Okay, vielleicht doch 1"

Ein Ruf erklang, der sie aus ihrer kleinen Bubble riss, die sie sich aufgebaut hatten.

„Ich schätze wir sollten wieder zurück ans Set gehen", Jiyoon löste sich langsam von ihm, „Nicht, dass wir im Zeitplan hinten sind."

Er wollte gerade gehen, doch Minseo hielt ihn zurück, zog ihn in seine Arme und küsste ihn kurz, aber liebevoll, bevor sie sich wieder in den Wahnsinn da draußen stürzten.

The Struggle is realWo Geschichten leben. Entdecke jetzt