Alles schien wie in Zeitlupe zu verlaufen. Im Nachhinein konnte Minseo sich nicht daran erinnern was genau passiert war, nur dass er verzweifelt an den Schultern seines jüngeren Bandkollegen gerüttelt hatte und nach Hilfe schrie. Ihr Manager hatte sie erreicht, ein Staff hatte den Notarzt gerufen. Minseo sah noch genau vor sich wie ein Ruck durch Jiyoons Körper ging, als er die Augen aufriss und die Luft in einem verzweifelten Atemzug in sich aufnahm. Wer wusste schon, wie lange er nicht geatmet hatte.
Nolan hatte Minseo aus dem Bad gezogen, alles war wie in einer Trance an ihm vorbeigegangen und nun saßen er Jaebom, Florian und Nolan in ihrem Aufenthaltsraum im Entertainment. Eingesperrt, war wohl das richtige Wort für ihre Situation. Yumi hatte klar gemacht, dass sie bis auf weiteres hier bleiben mussten. Einer der Bodyguards des Entertainments stand wie ein Wachposten vor der Tür, so als wären sie vier keine verängstigten Jungen, beinahe noch Teenager.
Keiner sagte was, jeder stierte in eine andere Richtung des Raumes. Sie könnten Fernsehen, doch niemand hatte den Fernseher angeschaltet. Minseo beobachtete die Vögel, draußen vor den Fenster, wie sie fröhlich quietschend miteinander rauften und aufeinander einpickten. So unbeschwert und sorglos.
Kein Vergleich mit der drückenden Stimmung die hinter dem Fenster zwischen den vier Members herrschte. Die Unwissenheit über Jiyoon lastete schwer auf ihren Schultern.
„Meint ihr... meint ihr das war ein...", Jaebom war der erste der sprach, aber er traute sich nicht seinen Satz zu beenden. Nolan hob stumm den Kopf und zuckte mit den Schultern. Suizidversuch, das war das Wort, das der anderen nicht sagen hatte wollen. Minseo schluckte. Eigentlich war es eine berechtigte Frage. Die Tabletten, dass Jiyoon sich damit davongestohlen hatte, alles wies daraufhin.
„Aber er wirkte nie unglücklich auf mich", sagte Florian leise, „Er liebt es doch ein Idol zu sein, das sieht ihm nicht ähnlich."
„Wir wissen noch nicht einmal was das für Tabletten waren", meinte Nolan ruhig.
„Können wir nicht einfach auf ein Update warten, wie es ihm geht", Minseo hatte nicht beabsichtigt so genervt zu klingen. Nolan nickte.
„Minseo hat recht, wir stellen keine Theorien auf, solange wir nicht wissen, was passiert ist und wie es ihm überhaupt geht."
Darauf folgte wieder Stille. Niemand wagte etwas zu sagen. Minseo wusste nicht, wie lange dieser Moment gedauert hatte, als endlich ein Staff hereinkam. Sofort schnellten alle ihre Köpfe hoch, abwartend was er zu sagen hatte.
„Jiyoon ist wach und ihm geht es so weit gut", sagte der Mann, „Er wird noch eine Zeit im Krankenhaus verbringen müssen, sie werden so lange alleine nach Amerika fliegen. Wir werden sehen, wie wir das mit dem Musikvideo hinbekommen."
„Wir sollen ohne ihn nach Amerika?", fragte Jaebom entrüstet, „Er wäre fast gestorben, hat das Management nicht mal genug Anstand, um den Terminplan ein bisschen nach hinten zu schieben?"
Nolan warf ihm einen warnenden Blick zu, ehe er selbst das Wort ergriff. „Wir sind alle etwas aufgebracht, es ist ziemlich schwierig gerade an Arbeit zu denken. Haben Sie außerdem konkrete Informationen für uns, zum Beispiel was nun genau vorgefallen ist, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf zu fragen?"
„Das Entertainment wird Sie alle genauer informieren, aber im Moment ist es mir nicht gestattet mehr dazu zu sagen. Ich hoffe Sie verstehen das. Das sind sensible Informationen, die sich nicht so schnell herumsprechen sollen, solange wir immer noch Leute unter uns haben, die für Dispatch spionieren", erwiderte der Staff.
„Können wir ihn wenigstens sehen?", wagte Minseo schließlich vorsichtig zu fragen. Die Vorstellung, dass Jiyoon irgendwo ganz alleine und abgeschottet in einem Krankenzimmer lag, machte ihn krank. Er würde auch nicht wissen, wo sie alle gerade waren und was ihnen durch die Köpfe ging.
Der Mann schüttelte den Kopf.
„Erst einmal nicht."
„Erst einmal?", Minseo spürte, wie die Wut in ihm hochkochte, „Wir werden in weniger als zwei Tagen auf einem anderem Kontinent sein. Da ist nicht unbedingt viel Zeit, um abzuwarten."
Nolan berührte seinen Arm. „Minseo"
Seine Stimme klang eindringlich. Minseo zog seinen Arm weg.
„Nein, ich würde gerne mit Jiyoon sprechen oder mich zumindest vergewissern, dass es ihm so gut geht, wie Sie das behaupten. Das Entertainment will immer, dass wir uns als Familie fühlen, aber sobald wir füreinander da sein wollen, und uns wie eine Verhalten werden wir eingeschränkt. Feature ist ein Team. Ich möchte jetzt erfahren, was mit meinem Bandkollegen los ist, nachdem man uns hier stundenlang eingesperrt hat."
„Ich kann Ihnen nicht helfen, ich...", man sah wie der Mann ins Schwitzen gerat.
„Ist mal wieder typisch. Golden Entertainment hat mehr Angst vor einem Leak, als davor, dass seine Artists sterben."
Nolan neben ihm hatte das Gesicht in den Händen vergraben und die Tür wurde erneut aufgerissen und Yumi stürmte herein, ihr Gesicht wutverzerrt.
Sie musste Minseos kleine Schimpftirade gehört haben, oder zumindest den letzten Satz, der eigentlich schon ausreichte, um sie in solche Rage zu versetzen.
„Jetzt hört mal gut zu.", presste sie durch zusammengebissene Zähne hervor, „Das Entertainment rackert sich hier den Arsch ab, dass ihr eine gute Karriere habt, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als euch bei jeder Gelegenheit zu beschweren und uns zu hinterfragen. Ihr habt keine Ahnung, was ich hier jeden Tag für euch durchmache."
Florian zuckte unter ihrem Ton zusammen und Jaebom schlang einen Arm um ihn. Ganz Feature sah betroffen zu Boden.
„Und jetzt geht mir aus den Augen, fahrt zu euren Dorms und packt gefälligst für Amerika. Ich will nichts mehr hören. Ihr habt euch entschieden Idols zu werden. Dann benehmt euch auch wie welche."
So schnell sie konnten verließen Jaebom, Florian und Nolan den Raum. Minseo schlorfte hinter ihnen her, den Blick immer noch gesenkt, als er spürte, wie Yumi ihn zurückhielt.
„Und du Minseo. Glaub mir, mir ist nicht entgangen, dass du der Gruppe mehr zur Last fällst als sie zu bereichern. Also denk bloß nicht, dass du dir hier irgendetwas erlauben kannst. Ich mag dein Benehmen ganz und gar nicht."
Minseo versuchte den Kloß in seinem Hals runterzuschlucken. Seine Augen brannten. Er wollte nicht weinen, sollte es wohl auch nicht. Das würde ihn verletzlich aussehen lassen, aber seine Augen ließen ihn im Stich. Er spürte die Träne, die ihm die Wange hinunter lief. Yumi sah ihn kalt an.
„Hör auf zu weinen", sagte sie bestimmt, „Mitleid wirst du von mir keines bekommen."
„Denken Sie es ist leicht für mich?", brachte er mit zittriger Stimme hervor, „Ich gebe mein Bestes und..."
„So ist das nun mal in der Industry. Du wirst keine Gnade bekommen. Von niemanden. Sei endlich ein Idol und beweis mir, dass Born Singer kein Fehler war."
Mit diesen Worten ließ sie ihn gehen.
Im Van hatte Minseo stumm geweint, Florian hatte einen Arm um ihn gelegt, als er es trotz Minseos Versuche seine Schluchzer im Ärmel seiner Jacke zu ersticken, bemerkt hatte und hatte ihn bis zum Dorm nicht mehr losgelassen.
Alles schien zu viel zu sein. Der ganze Stress, Jiyoon, die Unwissenheit und die tiefe Verzweiflung. Wohin sollte das noch führen? Minseo hatte einen Fehler gemacht. Einen richtig beschissenen Fehler, den er so schnell nicht wieder hinbügeln konnte.
Er hätte alles haben können und hatte sich für nichts entschieden.
DU LIEST GERADE
The Struggle is real
RomansaEs gibt einiges, mit dem Minseo nicht gerechnet hat. Zum Beispiel damit, dass er Teil der Kpop-Gruppe Feature wird oder damit, dass er sich ausgerechnet in Jiyoon verliebt. Doch am allerwenigsten hat er mit dem USB-Stick gerechnet, auf dem sich Mate...