29. Kapitel

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Der Himmel war dunkel geworden und wären nicht so viele Lichter an diesem Festival, könnte man vermutlich die Sterne sehen.

Stattdessen blinzelte ich in die vielen Scheinwerfer auf der Bühne und bewegte mich zum Rhythmus der Musik.

Es war das letzte Set für heute, ich war dementsprechend erschöpft, aber ich würde den Tag bis zur letzten Sekunde genießen.

Erst als der letzte Ton verklungen war, erwachte ich aus meiner Trance und sah mich um.

Wo war Jack überhaupt? Ivan war mir nicht mehr über den Weg gelaufen und wir hatten uns vertragen, aber es dauerte eine Sekunde, bis ich ihn circa einen Meter entfernt entdeckte. Wir waren vermutlich beide so in der Musik abgetaucht, dass wir nicht mehr aufeinander geachtet hatten. Ich drängte mich zu ihm und deutete ihm an, zu gehen.

Wir bahnten uns einen Weg durch die Menge, weg vom Festival-Gelände und zurück zu unserem Zeltplatz. Dort ließ ich mich geplättet auf einen der Liegestühle plumpsen. Die Musik dröhnte noch immer in meinem Kopf und ich fühlte mich wie taub. Der Kontrast der vorherigen Lautstärke zu der Stille war enorm.

Ich warf Jack einen Blick zu, der nun auf dem Liegestuhl neben mir saß. "Gott bin ich K.O.", murmelte ich. "Aber es war echt richtig cool."

"Das war es", stimmte Jack zu. "Also kein Ivan mehr?"

Ich verzog bei der Erinnerung gequält das Gesicht. Es kam mir vor, als wäre das Ewigkeiten her. War es eigentlich auch. "Tut mir leid, dass ich dich vorher so angepflaumt habe", entschuldigte ich mich. "Keine Ahnung, wo das herkam. Aber es war nicht fair von mir."

Jack brummte. "Nicht wirklich. Aber die Hitze und der Alkohol machen komische Dinge mit uns allen. Also Entschuldigung angenommen. Und mir tut es auch leid, dass ich deine beste Freundin da ins Spiel gebracht habe. Das war unnötig." Ex-beste Freundin, korrigierte ihn mein Kopf wie automatisch.

Kurz herrschte Stille und wir starrten in die Dunkelheit, bevor ich mich wieder an Jack wandte: "Erzähl mir was über dich."

"Huh?", fragte er überrascht.

"Du meintest gestern ich soll dir Fragen stellen, wenn ich etwas über dich wissen möchte." War das echt erst gestern gewesen? Verrückt. "Also: wie sieht der Alltag von Jack Weston aus?" Ich grinste in die dunkle Nacht und hoffte auf eine ausführliche Antwort.

Er überlegte kurz. "Mein Alltag? Als Student hat man keinen richtigen Alltag, Fluch und Segen zugleich. Aber normalerweise mache ich ein bisschen was für die Uni, außerdem gebe ich natürlich verzogenen kleinen Gören Nachhilfe", witzelte er. Ich quittierte das mit einem kurzen Fake-Lachen, musste aber schmunzeln. "Zum Ausgleich brauche ich dann Sport, wahlweise Fitnessstudio oder Rennradfahren. Und den Rest der Zeit verbringe ich mit meinen Freunden."

"Oder mit deiner Familie", fügte ich hinzu. Immerhin hatte sogar ich schon Teil einer seiner und Marys Tanzpartys sein können. "Was machst du dann so mit deinen Freunden?"

"Alles Mögliche. Essen gehen, ausgehen, Fußball schauen, Kino, ab und an auch mal zocken. Im Winter Weihnachtsmärkte besuchen und im Sommer an den See fahren." Er hob die Schultern. "Vermutlich so ziemlich was du auch mit deinen Freunden machst. Oder hast du irgendwelche speziellen Hobbies?"

Ich schüttelte den Kopf. "Ne, eigentlich nicht. Wenn die Sonne da ist, leg ich mich furchtbar gerne auf unseren Balkon oder in den Park und lese. Und manchmal kommt eine kreative Ader in mir auf und ich beginne irgendein Mal-, Häkel- oder Stick-Projekt, das mich am zweiten Tag schon nervt", lachte ich. Neuerdings könnte man Final Fantasy auch zu meinen Hobbies zählen, aber das verschwieg ich Jack lieber.

"Ja, das kenn ich. Ich habe früher Gitarre gespielt und manchmal habe ich richtig Lust, sie wieder auszupacken und mir was Neues beizubringen. Aber spätestens nach einer halben Stunde vergeblichen Übens gebe ich meistens auf." Das konnte ich nachvollziehen. Obwohl ich selbst nie ein Instrument gespielt hatte. Meine Mutter hatte das nie initiiert und ich selbst auch nicht, was ich im Nachhinein ziemlich schade fand. "Und ich spiele manchmal gerne Schach", gab Jack grinsend zu.

Ich lachte leise. "Dass jemand wie du Schach spielt, war eigentlich zu erwarten."

"Jemand wie ich?", hakte er amüsiert nach.

"Ja. Ein kleiner Nerd wie du", grinste ich. Und fügte dann etwas leiser und ernster hinzu: "Aber mal ehrlich: du bist echt ein ganz vernünftiger Kerl. Deine Mutter hat viel richtig gemacht."

"Ja, das hat sie." Jacks Stimme klang gedämpft, schwelgend in Erinnerungen. "Aber ihre Krankheit hat mich auch schnell Erwachsenwerden lassen. Du hast vielleicht schon recht, wenn du sagst ich teile selbst auch nicht viel von mir. Ich bin gerne für andere da, und will, dass es ihnen besser geht. Aber mich selbst nehme ich oft zurück", gestand er, ohne mich dabei anzusehen, sodass ich nicht mal wusste, ob er zu mir oder zu sich selbst sprach.

Auch wenn ich Jack noch nicht so lange kannte, wusste sogar ich, dass er gerne alles erdenkliche tat, um anderen zu helfen. Und ganz offensichtlich hatte er selbst dafür zurückstecken müssen. Ganz egal wie groß seine Leidenschaft für Mathe war, er hatte bestimmt besseres zu tun als am Wochenende jemandem wie mir einfachste Formeln beizubringen. Und ich war mir sicher, dass er dasselbe Verhalten an den Tag gelegt hatte, als seine Mutter krank wurde. Eine unheilbar kranke Mutter, ein Vater, der wahrscheinlich selbst am Boden zerstört war und ein Teenager, der das Familienleben irgendwie aufrechterhalten und sich um alles kümmern musste.

"Brauchst du auch mal eine Umarmung, Jack?", bot ich leise an.

Er wandte mir den Kopf zu und ich sah seine Augen durch das Mondlicht glänzen. "Vielleicht schon, ja", lächelte er. "Aber lass uns erst ins Bett gehen, mir wird langsam kalt." Er warf einen Blick auf meine nackten Oberarme, die ich eng um meine Brust geschlungen hatte. "Und dir offenbar auch."

Das war eine ausgezeichnete Idee. Wir schnappten uns unsere Zahnputzsachen und verschwanden getrennt in den Container-Klohäuschen des Campingplatzes.

Als ich zurück zum Zelt kam, war Jack schon wieder da. Er kniete halb im-halb vorm Zelt und drapierte unsere Isomatten nebeneinander. Ich wartete, bis er ins Zelt kroch und folgte ihm dann.

"Es ist wirklich eng", stellte er fest und sah sich um. Das war es. Aber wenigstens war es nicht mehr so stickig heiß wie vorhin. Ich zog schnell den Reißverschluss des Eingangs zu, bevor Mücken kamen und machte dann meine Handy-Taschenlampe an, um besser sehen zu können.

Während Jack die kleinen Fensterchen hochrollte, suchte ich die Schlafsäcke. "Ähm. Du hast schon einen Schlafsack mitgenommen, oder?", vergewisserte ich mich.

"Ja", meinte Jack und sah mich irritiert an.

Okay. Also musste hier ja noch irgendwo ein zweiter sein...

Die beiden Kissen hatte ich schon gefunden und auch einen der Schlafsäcke, aber wo war der zweite?

"Das ist meiner", deutete Jack auf den einen Schlafsack, der meinen leichten Anflug von Panik wohl spüren konnte. Er rollte ihn aus und legte ihn auf seine Seite.

Verdammt. Das war tatsächlich sein Schlafsack, meiner sah anders aus.

"Findest du deinen nicht?", fragte er.

"Nein!", bestätigte ich schrill. "Ich schau nochmal schnell im Auto, er muss ja irgendwo sein." Im Zelt waren ansonsten nur Jacks Rucksack und meine kleine Reisetasche, es war also unmöglich, dass er hier war. Aber ich hatte ihn definitiv aus dem Keller in mein Zimmer geholt und wir hatten alles aus meinem Zimmer ins Auto gebracht...

"Violet", beruhigte mich Jack. "Im Auto war nichts mehr." Ich sah ihn an, unschlüssig, was ich nun tun sollte. Er klang so überzeugt, dass ich ihm glaubte. Aber mir war kalt und so ganz ohne Schlafsack hätte ich sicher keine gute Nacht. Vielleicht könnte ich mich irgendwie mit meinem Pulli zudecken?

"Wir teilen einfach meinen", beschloss Jack. Ich sah ihm tatenlos dabei zu, wie er den Schlafsack aufmachte, sodass aus dem Kokon eine offene Decke wurde und seufzte. Blieb mir etwas anderes übrig?

Danach begann Jack sein Hemd aufzuknöpfen und ich hielt überrascht den Atem an. "Was machst du?"

Er runzelte die Stirn. "Ich ziehe mich um?" Oh. Ja. Gut, das klang logisch. Logischer, als dass er sich auszog. Und ich mich auszog. Und wir zusammen unter der Decke verschwanden.

Wobei wir gewissermaßen genau das tun würden. Nur anders.

Die mathematische Formel für LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt