39. Kapitel

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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schlief Jack noch.

Er lag auf der Seite, den Kopf ins Kissen vergraben und ein völlig entspanntes Gesicht, während ich auf meinem Rücken lag. Ich nutzte die Chance, und nahm sein Bild in mir auf. Weiche, zerstrubbelte Haare, einzelne Strähnen fielen ihm in die Stirn, die ich am liebsten beiseite geschoben hätte. Geschwungene Lippen, die schon wieder zum Anbeißen aussahen. Seine Bartstoppeln kamen immer noch durch, aber er sah nicht so verwegen aus, wie gestern früh. Er hatte an diesem Wochenende echt etwas Farbe abbekommen und ich betrachtete die feinen Härchen auf seinem Arm, der schwer über meinem Bauch lag. Ein paar kleine Muttermale oder Sommersprossen fanden sich auf seinem Unterarm wieder, genau wie auf seiner Nase. Er war echt attraktiv, erst recht jetzt, wo ich wusste, wie schön seine Augen funkeln konnten, wenn er mich ansah. Wie sich kleine Fältchen darum und um seine Mundwinkel bildeten, wenn er über etwas lachte, das ich gesagt hatte. Wie viel Geborgenheit sein Körper spendete, wenn er mich in den Arm nahm. Er war trainiert, muskulös, aber nicht so, dass kein Gramm Fett mehr an seinem Körper zu finden war. Er war trotzdem noch weich, wenn man sich an ihn kuschelte.

Gott.

Ich war sowas von verknallt.

Verknallt in Jack Weston. Meinen Nachhilfelehrer. Nerviges Mathe-Genie, Besserwisser und eigentlich unausstehlich.

Wie war das passiert?

"Violet", brummte Jack auf einmal und ich zuckte erschrocken zusammen. Er hatte die Augen immer noch geschlossen, aber er wälzte sich leicht hin und her und griff mit seinem Arm, der über mich drapiert war an meine Hüfte, um mich fester gegen sich zu ziehen. "Starrst du mich an?"

Ich hielt überrascht die Luft an. Shit. Wie lange hatte er meine Blicke schon auf sich gespürt?

"Nein, ich-", stammelte ich nervös, "bin gerade erst aufgewacht."

Er öffnete die Augen mit einem Wimpernschlag, dass man nur neidisch werden konnte und grinste mich an. Er wusste, dass ich log. "Guten Morgen."

"Guten Morgen", murmelte ich bemüht unbekümmert. Auf keinen Fall sollte er erahnen, dass mich gerade die Erkenntnis, dass ich in ihn, in fucking Jack Weston, verknallt war, wie ein Blitz getroffen hatte. Eine Erkenntnis, mit der ich selbst noch nichts anzufangen wusste. Ich wusste nur, dass ich Jack mit völlig neuen Augen sah.

Das Wochenende hatte mir so viel Spaß gemacht und ich war so glücklich, dass ich gerade unendlich viel Liebe in mir trug. Alles erschien möglich. Eine Versöhnung mit Ellie, eine Lösung für das Warrior-Drohbrief-Problem, mein Mathe-Abi.

So gerne ich auch noch gekuschelt hätte, so warm war es schon wieder im Zelt und aufgrund der erhöhten Feuchtigkeit vom gestrigen Regen war es ziemlich klebrig-stickig. Außerdem konnte ich hören, wie die anderen um uns herum schon ihre Sachen abbauten, womit wir wohl langsam auch starten sollten, wenn wir noch einigermaßen früh wieder zuhause sein wollten. Und ich verspürte das plötzliche Bedürfnis, so weit es ging aus Jacks Umarmung zu fliehen, sonst würde ich in der nächsten Minute wohl den Verstand verlieren. Ausnahmsweise nicht, weil er mich so aufregte, sondern weil ich mit all diesem Gefühl, das durch mich strömte, echt nicht umgehen konnte.

"Ich kümmere mich um das Zelt innere und du um das äußere?", fragte ich lieb blinzelnd und setzte mich auf.

Er grinste amüsiert. "Ich weiß ja nicht, ob das eine faire Aufteilung ist, aber okay." Unschuldig grinste ich zurück. "Dann geh ich mal ins Bad, während du dich um die Schlafsachen kümmerst und danach bau ich das Zelt ab."

"Danke!", rief ich ihm zufrieden hinterher, während er zu dem Badehaus verschwand. Wirklich sehr löblich von ihm, ich hatte nämlich so gar keine Lust, das Zelt abzubauen. Dann kniete ich lieber im engen Zelt, in dem man vor Sonnenhitze kaum Luft bekam, und rollte Isomatten zusammen. Ich stopfte Jacks Schlafsack so ordentlich es ging wieder in die Hülle und packte meine Tasche, bevor ich alles schon mal nach draußen stellte. Einen Vorteil hatte die starke Sonne doch: der Boden draußen war bereits wieder trocken.

Ich klaubte die immer noch feuchten Klamotten von Jack und mir von gestern aus der Ecke und wollte sie auseinander sortieren, als plötzlich etwas aus der Tasche seiner Hose fiel. Etwas Silberglänzendes.

Neugierig beugte ich mich darüber.

Und erstarrte.

Ein Kondom.

Er hatte den ganzen gestrigen Tag über ein Kondom in seiner Hose gehabt? Warum? Und warum zum Teufel hatte er mir dann gesagt, er hätte keines dabei?

Meine Gedanken rasten und ich starrte so intensiv auf das kleine Päckchen am Zeltboden, dass ich vergaß zu blinzeln, bis meine Augen brannten. Absolut regungslos kniete ich auf dem harten Untergrund und fixierte das Kondom vor mir.

Jack hatte mich angelogen. Damit er keinen Sex mit mir haben musste. Oder eher, damit er den Sex mit mir nicht fortsetzen musste. Obwohl er augenscheinlich offen war, mit jemandem auf diesem Festival zu schlafen, sonst hätte er ja kein Kondom mitgenommen. Hatte er geplant, gestern Nacht Sex zu haben? Und dann war ich dazwischen gekommen?

Diese neue Information passte nicht zu den Signalen, die er gestern und eigentlich auch noch bis vor wenigen Minuten gesendet hatte. Andererseits, sprach so eine Tat nicht mehr als ein paar liebe Worte?

Fakt war, dass er gelogen hatte. Bewusst. Ich hatte gestern schon das Gefühl gehabt, dass er bei meiner Frage zögerte. Und als es um den Wiederholungsbedarf ging, hatte er selbst eigentlich gar nichts dazu gesagt. War das nur eine nette kleine Nummer für ihn, bedeutungslos, aber einfach zu haben und besser als nichts? Während ich gerade darauf und dran war mich in ihn zu verlieben.

In mir stieg ein ätzendes Gefühl von Zurückweisung auf. Nur mit Mühe konnte ich die enttäuschten Tränen zurückblinzeln, die plötzlich in meine Augen schossen. Ich war so erbärmlich. Eine Idiotin. Jemand wie Jack würde niemals jemanden wie mich gut finden. Vielleicht fand er mich sexy, gut genug, um einmal drüber zu rutschen, zu vögeln, aber etwas tiefergehendes war da nicht. Von seiner Seite.

In meinem Hals bildete sich ein Kloß und ich versuchte den aufkeimenden Groll gegen Jack, gegen mich selbst, zu unterdrücken, runterzuschlucken, aber es gelang mir nicht.

Und ich hatte auch keine Zeit mehr dazu. Denn, bevor ich auch nur irgendeinen rationalen Gedanken in meiner Schockstarre fassen konnte, hörte ich Jacks Schritte vor dem Zelt. Sogar die konnte ich mittlerweile an ihrem Klang identifizieren. Ich war hoffnungslos verloren. Und wütend.

Wie automatisiert griff ich nach dem silbernen Päckchen und versteckte es in meiner Hand - im selben Moment, in dem Jack seinen Kopf ins Zelt steckte.

"Bist du fertig? Sollen wir das Zelt abbauen?", fragte er so normal, dass es mich aufregte. Nein, nichts war normal du Idiot. Du hast mich belogen und benutzt.

"Du kannst das Zelt abbauen", fauchte ich ihn an. "Ich geh auf Toilette."

Verdattert wich er ein Stück zurück und runzelte verwirrt die Stirn. Tja. Vor zwei Minuten hatte ich auch noch nicht gedacht, dass sich das wohlige Gefühl in seiner Nähe in nur einer Sekunde um 180 Grad drehen konnte.

"Alles in Ordnung, Violet?", hakte er vorsichtig nach und musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. Hoffentlich waren meine Pupillen nicht rot, vor Wut - oder vor den heißen Tränen, die dahinter brannten. Aber garantiert würde keine einzige davon wegen diesem scheinheiligen Idioten verdrücken. Ich hätte es wissen müssen. Der erste Eindruck täuschte nie. Jack spielte irgendwelche Spielchen. Ich wusste nicht welche, aber ich würde da nicht mit machen.

"Violet?", wiederholte Jack komplett ahnungslos blinzelnd und sah mich aus ausreichender Distanz an. Besser für ihn.

Ich knurrte. "Alles super. Bin gleich fertig. Dann kannst du das Zelt machen."

Meine Faust ballte sich immer noch um das Kondom und die Ränder stachen scharf in meine Handinnenfläche. Währenddessen wandte ich mich von Jack ab, ich konnte ihn nicht ansehen. Stattdessen tat ich geschäftig und formte meine nassen Klamotten zu einem Ball.

Jack schien zu spüren, dass ich gerade kurz vor einem Wutausbruch oder Nervenzusammenbruch stand. Ich wusste selbst nicht so genau, welches Gefühl stärker war - die Wut oder die Enttäuschung? Jedenfalls wirkte er nicht überzeugt, zog sich aber zurück und ließ mich in Ruhe den Rest hier drinnen fertig machen. Was bedeutete: ich stopfte das miese kleine Kondom zurück in seine Hosentasche und pfefferte seine Kleidung dann in seinen Rucksack. Sollte er es doch für die nächste nutzen. Mir scheißegal, was er damit machte.

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