41. Kapitel

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Nach dem distanziert-freundschaftlichen Abendessen mit Ellie konnte ich nicht anders, als einmal kurz in Final Fantasy nachzusehen, ob Warrior etwas auf meine letzte Nachricht geschrieben hatte. Ich würde ihm nicht antworten. Einfach nur aus Interesse, loggten sich meine Finger wie automatisch ein.

Er hatte geantwortet. Vor zehn Minuten.

Vor zehn Minuten? Meine letzte Nachricht: » Ich fahr übers Wochenende weg. Bin ein bisschen aufgeregt. Wünsch mir viel Spaß! « war fast drei Tage her. Als wüsste er, dass ich genau in diesem Moment seine mentale Unterstützung gebrauchen könnte.

» Wieso aufgeregt? «, lautete seine knappe Antwort.

Aber ich wollte ja gar nicht antworten.

Also ging ich Zähne putzen, räumte die piepsende Spülmaschine aus. Schlüpfte in meinen Pyjama und überlegt, ob ich noch etwas anschauen oder direkt schlafen sollte.

Nur um am Ende doch meinen Laptop ins Bett zu zerren und Warrior zu antworten. Ich war eine schwache Seele. An einem schwachen Punkt in ihrem Leben. Nichts, was man mir vorwerfen könnte.

» War mir nicht sicher, ob ich mit meiner Begleitung zurechtkomme «, schrieb ich vage zurück. Ich wollte ihn nicht direkt wieder mit meinen Problemen vollheulen. Wenn er allerdings von selbst nachfragen würde... dann war das doch völlig legitim, oder?

Warrior antwortete prompt. » Wer war deine Begleitung? Und wie lief es? «

Unschlüssig kaute ich kurz auf meinem Fingernagel. Wie war mein Verhältnis zu Warrior? Manchmal hatten wir schon ein bisschen geflirtet. Würde er es doof finden, wenn ich ihm von einem anderen Typen erzählte? Von einem, den ich wirklich gut fand und nicht nur aus Mangel an Alternativen - wie Ryan - interessant fand? Aber im Endeffekt war zwischen meinem Verhältnis zu Ryan und dem zu Jack von außen betrachtet eigentlich doch kein großer Unterschied. Der einzige Unterschied war mein Kopf.

» Mein Nachhilfelehrer... kannst du das glauben? Es war eigentlich überraschend gut, aber es hat sich am Ende dann doch herausgestellt, dass der erste Eindruck nie täuscht. «

Einige Minuten später ploppte eine neue Nachricht auf: » Was ist denn vorgefallen? «

Ich zögerte. Es wäre mir doch etwas unangenehm, das nun alles auszuplaudern. Vor allem da ich wusste, wie verrückt das klang. Ich war so verdammt geil auf meinen Nachhilfelehrer und ich dachte er auch auf mich, aber turns out: er hat nur mäßig Interesse mich zu ficken und hat mich im selben Atemzug, in dem ich merke, dass ich ihm Hals über Kopf verfallen bin, wegen einem Kondom angelogen? Gott, das klang fürchterlich. Das konnte man echt keinem erzählen.

» Nicht so wichtig «, schrieb ich daher ausweichend. » Er ist übrigens auch Mathe-Student. Ich habe ihn wegen deiner Masterarbeit gefragt, aber er hat leider nicht viel dazu gesagt. «

Die nächste Antwort brauchte noch ein paar Minuten länger. Was Warrior wohl gerade machte? Musste er auch überlegen, was er am besten schrieb, oder machte er parallel noch etwas anderes? » Vielleicht solltest du mal mit ihm darüber reden, anstatt mir davon zu erzählen? Ich habe gehört Mathe-Studenten sind sehr verständnisvoll und würden nie jemandem etwas Böses wollen. Erst recht nicht dir, June ;) «

Ich schnaubte. Pah. Vielleicht traf das auf manche Mathe-Studenten zu, auf Warrior. Aber er kannte Jack schließlich nicht. Der Junge hatte mir schon viel Böses getan. Ständig wollte er mich leiden sehen. Beim Sport, bei Mathe, immer.

» Es ist übrigens schon wieder ein Brief da «, wechselte ich das Thema.

» Shit. Das tut mir echt leid, June. Ich würde gerne helfen, aber ich weiß nicht wie. «

Ich verzog den Mund und bemitleidete mich selbst. » Danke. Aber ja, du kannst nicht helfen, ich kann mir ja nicht mal selbst helfen. Langsam gewöhn ich mich eh schon dran. Vielleicht schmeiße ich die Briefe in Zukunft einfach direkt ungeöffnet ins Altpapier. «

» Niemand sollte sich daran gewöhnen müssen. Ich hoffe du weißt, dass egal was drinsteht, es garantiert nicht stimmt, ja? Und das klingt nach einer ausgezeichneten Idee. Vielleicht nicht gleich wegschmeißen, falls du doch irgendwann mal zur Polizei willst, aber lese sie am besten nicht mehr selbst und schon gar nicht allein. «

Er hatte recht. Leider. Hatte er auch recht damit, dass ich mit Jack reden sollte? Sollte ich ihn auf das Kondom ansprechen? Wollte ich seine Ausreden hören? Wäre ich überhaupt bereit, die Wahrheit zu hören, wenn meine Anschuldigungen stimmten? Eigentlich nicht... Ich wusste nicht was schlimmer war, weiterhin Hirngespinste zu haben, bei denen die Chance bestand, dass es doch irgendeine verdrehte Erklärung dafür gab - oder die Hirngespinste womöglich wahr werden zu lassen.

» Danke, dass du dir all meinen Unsinn immer anhörst! « Ich seufzte. Warrior war echt eine gute Seele. » Wie läufts denn bei dir? Kommst du mit der Masterarbeit voran? Mit den Frauen? ;) «Ich wollte genauso für ihn da sein können, wie er es für mich war.

Langsam spürte ich, wie Müdigkeit in meinen Körper kroch, mein Laptop war schon auf der dunkelsten Stufe und ich hatte den Nachtmodus eingeschalten, trotzdem schmerzten meine Augen schon von dem Licht. Gott sei Dank war Warrior ein schneller Antworter.

» Masterarbeit geht voran. Ich mache drei Kreuze, wenn ich fertig bin. Aber es wird. Und was die Frauen angeht, ja... wenn ich das wüsste. Keine Ahnung, wo ich stehe. «

Überrascht starrte ich meinen Bildschirm an. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er in dieser Hinsicht etwas am Laufen hatte. Ein kleiner Stich schoss in mein Herz. Nach der ganzen Sache mit Jack hatte sich mein kleiner Crush auf Warrior ziemlich schnell verflüchtigt und ich war nicht richtig eifersüchtig, aber es war trotzdem ein komisches Gefühl, zu wissen, dass er außerhalb von dieser kleinen Final-Fantasy-Blase noch ein anderes Leben hatte. Ein richtiges Leben. Es gab Leute, die ihn persönlich kannten.

» Wieso weißt du nicht wo du stehst? «, fragte ich nach. Auf die Gefahr hin, dass ich das gar nicht unbedingt so genau wissen wollte.

Warrior tippte. » Es ist viel passiert. Aber ich entspreche ziemlich sicher nicht ihrem klassischen Beuteschema, sie legt ein ziemlich selbst-destruktives Verhalten an den Tag bei der Männerauswahl. Also weiß ich nicht genau wie ich an sie rankommen soll. Gedanken lesen kann ich leider auch nicht, obwohl das manchmal echt hilfreich wäre. «

Wieder spürte ich diesen kleinen, enttäuschten Stich, aber ich schluckte das Gefühl herunter. Das war echt nicht angebracht. Ich sollte mich für wer-auch-immer-sie-war freuen, anstatt eifersüchtig zu sein, dass a) Warrior ein reales Leben außerhalb unseres Chats hatte und b) andere Frauen scheinbar echt gute Typen anzogen.

» Du bist doch ein Warrior, also kämpf ein bisschen ;) «, scherzte ich. » Und du bist toll. Soweit ich das beurteilen kann. Also bin ich sicher, dass du sie von dir überzeugen kannst. «

» Danke. Das ist lieb. Machen wir einen Deal? «, schrieb er. » Ich leiste alles an Überzeugungskraft, was ich habe, und du sprichst deine Festival-Begleitung auf dein Problem an? «

Ich rümpfte wenig begeistert die Nase und grummelte. » Muss ich mir nochmal überlegen. Aber viel Glück dir! «

Das war mein heutiges Schlusswort.

Es tat gut, mir einmal alles von der Seele geschrieben zu haben und jetzt konnte ich, hoffentlich, in Ruhe schlafen und einmal meinen Kopf ausschalten. Langsam konnte ich es nicht mehr ertragen, dass meine Gedanken ständig um Jack kreisten. Um das Kondom. Um seine Küsse. Seine Berührungen. Um den Fakt, dass ich hoffnungslos verloren und in einer absolut beschissenen Situation war. Und morgen wieder Nachhilfe war. Nicht mal ein Tag Pause war mir gegönnt.

Eine ruhige Nacht wurde es - wenig überraschend - eher nicht. Ich vermisste Jacks Körperwärme und seine Arme um mich. Sogar sein gleichmäßiges Atmen fehlte. Nachdem er zwei Tage neben mir geschlafen hatte. Zwei Tage. Dass ich hoffnungslos verloren war, war noch eine Untertreibung. Das einzig gute war, dass meine Matratze zehnfach so bequem war wie die dünne Isomatte im Zelt.

Also wachte ich am nächsten Tag ohne Rückenschmerzen auf aber dafür mit einem pochenden Herzen. Ich fühlte mich so gar nicht bereit, Jack wieder unter die Augen zu treten. Ich brauchte mehr Zeit, um nachzudenken, wie ich mich verhalten sollte. Wollte ich so tun, als sei alles ganz normal? Wollte ich sauer auf ihn sein? Ihn zur Rede stellen? Keine Ahnung. Ich war einfach nur überfordert und wollte mir nicht mein Herz von ihm brechen lassen. Was ein Leichtes wäre.

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