Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Jack wie angekündigt bereits weg. Trotzdem fand ich es ein bisschen schade, dass meine andere Betthälfte leer war. Sie war nicht mal mehr warm.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass Jack aber auch schon seit mehreren Stunden weg sein musste. Es war eigentlich nicht mal mehr morgens, sondern bereits mittags.
Der Tag schlich dahin. Ich begann ein neues Buch, lag abwechselnd auf dem Balkon und auf der Couch im Wohnzimmer, aß das übrig gebliebene Himbeer-Joghurt Eis und tagträumte von Jack.
Irgendwann kam Ellie heim und ich war überrascht, wie schnell die Zeit vergangen war.
Wir machten uns einen schönen Abend zusammen, in dem wir nochmal in Ruhe über die letzten Monate sprachen, unsere Gefühle miteinander teilten und ich glaubte wirklich, dass alles zwischen uns wieder besser werden würde.
Der kurze Wochenend-Besuch bei ihrer Mutter schien ihr gut getan zu haben. Sie wirkte zwar noch lange nicht erholt, aber dafür, dass ihr Herz am Samstag sicherlich in eintausend Stücke zersplittert sein musste, sah sie okay aus.
Ich öffnete nochmal den Chat mit Warrior, überlegte ob ich ihm für seinen Hinweis danken und von den gestrigen Geschehnissen berichten sollte, ließ es dann aber. Er hatte ziemlich deutlich gemacht, dass unser Gespräch für ihn beendet war. Auch wenn mich die Neugierde nach mehr Infos schier von innen heraus auffraß.
Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wie alles zusammenhing.
Ich malte mir sogar einen Zeitstrahl auf. Der Beginn unseres Chats. Das Eintreffen der ersten Briefe. Wann Theo etwas über die Chats erfahren haben könnte. Vielleicht als ich Ellie einmal von Warrior berichtet hatte, während er auf dem Klo saß? Dort könnte er davon mitbekommen haben. Und dann irgendwie - zufällig? - bei Warrior den geöffneten Chat entdeckt und eins und eins zusammengezählt haben. Das war die große Schwachstelle meiner Analyse. Ich verstand nicht, wie Warrior, Theo und ich zusammenhingen. Wusste nicht, ob Warrior von Anfang an meine Identität gewusst hatte oder erst später? Vielleicht erst als er meinen Namen auf dem abfotografierten Brief gelesen hatte? Aber es hatte eher so gewirkt, als wusste er es da schon.
Auf einem zweiten Blatt Papier erstellte ich eine Art Mind-Map. Ich schrieb meinen Namen in einen großen Kreis und Theos Namen. Dann notierte ich auf dem Rest des Blatts Namen von Leuten, die sowohl mich als auch Theo kannten und verband uns mit Linien. Da stand natürlich Ellie. Als wichtigste Verbindung. Aber offensichtlich war sie nicht Warrior. Auch Zoe und Giana standen da, Theo war schließlich nahezu ständig hier und die beiden hatten mich in der Zeit das eine oder andere Mal besucht. Aber ich konnte sie wohl genauso ausschließen wie Ellie. Weil das völlig absurd wäre.
Ich schrieb weitere Namen auf. Unser Nachbar. Der kannte uns offensichtlich beide. Ellies Schwester und ihr Freund, die einmal zu Besuch gewesen waren. Eigentlich sämtliche Freunde von Ellie. Nach einer Weile brach ich ab. Es gab viele Namen, die theoretisch uns beide kannten, wenn auch nur flüchtig, aber nichts davon passte. Vor allem fragte ich mich auch, wie beispielsweise mein Nachbar zum einen gecheckt haben sollte, dass ausgerechnet ich June Blue war und wie Theo in diesem Szenario an seinen Laptop herangekommen sein sollte. Das ergab einfach alles keinen Sinn, es war zu verworren.
In der kommenden Nacht schlief ich nicht besonders gut, meine Gedanken versuchten krampfhaft ein Problem zu lösen, bei dem mir allerdings essentielle Infos fehlten.
Am darauffolgenden Montag war ich ein noch größeres Nervenbündel.
Zu meinen Analyseversuchen kamen Überlegungen, ob ich Jack schreiben sollte. Hatte er wie geplant seine Masterarbeit drucken lassen und abgegeben? Sollte ich ihm meine Glückwünsche schreiben? Oder war das zu aufdringlich?
An seiner Stelle würde ich mich wahrscheinlich für die gesamte nächste Woche ins Bett werfen und einfach nur erholen. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie es sein musste ein halbes Jahr keine freie Minute zu haben. Zu wissen, dass man jede Minute, in der man etwas anderes machte, auch dazu nutzen könnte, etwas für seine Masterarbeit zu machen.
Also schrieb ich ihm nicht. Ich konnte mich in ein paar Tagen immer noch melden. Am Mittwoch würden wir uns ja wie üblich sehen und dann könnten wir reden. Darüber, in welche Richtung das hier gerade lief. Der Gedanke machte mich ein bisschen nervös.
Ich schob die Überlegungen beiseite und widmete mich auch am nächsten Tag wieder meiner anderen Aufgabe: das Warrior-Problem.
Es war relativ warm an diesem Dienstagnachmittag und ich wollte eigentlich gleich raus gehen, mich in den Park legen, mit einem Eis in der Waffel und Podcasts hören. Meine Gedanken sortieren, bevor ich morgen Jack wieder sehen würde.
Aber bevor ich das tun konnte, schoss mir eine Idee durch den Kopf.
Ich hatte so viel über Jacks Masterarbeit nachgedacht und dabei völlig außer Acht gelassen, dass Warrior doch ebenfalls seine Masterarbeit schrieb und mittlerweile eigentlich auch langsam fertig sein müsste.
Wurden Masterarbeiten veröffentlicht? Im Regelfall wahrscheinlich nicht aber ein Versuch war es wert.
Ich schnappte mir meinen Laptop und öffnete den Webbrowser. Mein Herz pochte vor Aufregung. Das war mein letzter Anker, um womöglich herauszufinden, wer hinter Warrior steckte.
Parallel öffnete ich den Chat und scrollte dahin zurück, wo Warrior mir über das Thema seiner Abschlussarbeit geschrieben hatte. Ellipsen-Krypto-Zeug. Ich kopierte die Wörter und fügte sie in die Suchzeile des Browsers ein. Erst einfach nur so, aber offensichtlich kamen hunderte von Suchergebnissen, die allesamt nicht aufschlussreich waren.
Probeweise tippte ich die Worte in Verbindung mit 'Masterarbeit' ein, aber es kamen nur Themenvorschläge zu Masterarbeiten in diesem Bereich und dann eine Menge allgemeiner Ergebnisse, die aber nichts mehr mit meiner eigentlichen Suchanfrage zu tun hatten. Ich schaute auch bei Google Scholar und scrollte mich durch die Treffer. Es war aber unmöglich alle durchzulesen.
Nach was suchte ich eigentlich genau? Das schien kein absolutes Nischenthema zu sein und ich hatte nicht den genauen Wortlaut des Titels, um am Ende verifizieren zu können, ob die Arbeit nun von Warrior war oder nicht. Wenn dort bloß ein wahlloser Name und ein ähnlich-lautender Titel stand, bewies das rein gar nichts und brachte mich kein Stück weiter. Ich sah mir auch die Daten an, aber alles war schon seit längerer Zeit veröffentlicht und passte nicht ins Bild.
Also verfeinerte ich meine Suche, gab zusätzlich "Uni" ein. Wieder nur eine Menge nichtssagende Ergebnisse.
Ich startete einen letzten Versuch. Warrior kannte vermeintlich Theo und mich. Es war also nicht unwahrscheinlich, dass er hier in der Stadt studierte. Es gab nur eine staatliche technische Universität hier, die TUX. Das war der letzte Anhaltspunkt, den ich hatte und ich könnte komplett falsch liegen. Aber ich versuchte es.
Ich googlete: Kryptographische Algorithmen auf Basis elliptischer Kurven + Masterarbeit + TUX.
Mit gebanntem Arten starrte ich auf die Suchergebnisse und klickte das erste an, ein Ergebnis von der Uni-Website. Ich war ein absolutes Nervenbündel. Meine Beine zappelten unaufhörlich auf dem Boden, meine Augen krampfhaft auf den Bildschirm gerichtet und meine Hände am Schwitzen.
"Unsere aktuellen Mathematik-Abschlussarbeiten", las ich die Überschrift. Ich scrollte nach unten. Entdeckte eine Auflistung von Titeln und überflog sie.
Es stand nichts zu dem gewünschten Thema.
Aber dann fiel mir auf, dass ich noch in der Kategorie Bachelorarbeiten war. Ich scrollte hektisch weiter nach unten, fluchte als die Seite kurz stockte.
Das blieb mir jedoch abrupt im Hals stecken, als ich endlich las, wonach ich suchte: Elliptische-Kurven-Kryptographie.
Der Eintrag war versehen mit einem Link.
Zitternd klickte ich darauf. Ich wurde weitergeleitet und in meinem Browser öffnete sich automatisch ein pdf. Mit dem Titel: Kryptoanalytische Verfahren für die ECC-Verschlüsselungstechnik.
Und mein Herz rutschte mir bis in die Hose.
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Die mathematische Formel für Liebe
RomanceMathe + Violet = Error. Um ihr Abi nachzuholen, kommt sie daran aber nicht vorbei. Also muss ein Nachhilfelehrer her. Und das soll ausgerechnet Jack sein, der sich neben seinem Mathestudium ein bisschen was dazu verdienen will. Jack, der nervtöten...